aufgewacht – Oktoberfest

 

Oktoberfest

Von Dion M. Beeck

niemand nimmt uns unsere Freiheit.

Mirabella starrte fassungslos ihren Schuh an. Der schwarze Schnürschuh blickte stilvoll und echtledrig zurück. Vorwurfsvoll, archaisch und ebenso unentspannt wie Mirabella. Das bröckelige schwarzbraune Relikt aus irgendeinem Tier gefertigt, dessen Name Mirabella sich einfach nicht merken konnte und das, wie die meisten Tiere, längst ausgestorben war, war kaputtgegangen. Einfach so, ohne dass sie grob gerissen, oder die Schnalle die sie in der anderen Hand hielt aggressiv verdreht hätte. Einfach so, weil der Schuh so alt und dieses „Leder“ so hart und unflexibel geworden waren. 

  Sie erinnerte sich noch wie ihre schöne Mutter ihr den Schuh damals überreicht hatte beim Picknick an der Isar aus dem grellen Licht raus. Das helle Haar hatte das Licht ganz eingefangen. Sie die Mutter, der Carlo und der Marius auf der geblümten Decke draußen am Pullacher Strand, wo noch nicht viel los war Mitte März. Das Picknick war zu Ende und Marius hatte sein Erdbeermarmeladenbrot zum Teil im Gesicht, zum Teil auf seiner nackten Haut verschmiert. Es war Mirabellas Geburtstag gewesen und ganz stolz war sie, weil die Mutter ihr das große Paket in Zeitungspapier überreichte aus diesem grellen Gegenlichtschein der Sonne, in dem sie kniete. Im Karton schlief das Dirndl, wartend von ihr geweckt zu werden, und die Schuhe. 

„Viel sand net übrig von der Familie…“ Hatte die Mutter ein bisschen traurig gemeint. „Doch dafür ist’s ganz schön alt. Die Oma hat’s bekommen, als die volljährig wurd. Dann i und nu du. Schön oder?“ Marius wollte am Stoff zeihen, aber das ließ Mirabella nicht zu. Ihr Bruder war erst vier. Der würde den schönen blauen Stoff mit seinen Marmeladenfingern achtlos ruinieren. 

  15 Jahre später wurde sie doch noch hektisch, schob den Schuh über ihren rechten nackten Fuß und drückte und zog und knotete in jäher Verzweiflung die Riemen in allen möglichen Varianten um ihren Knöchel, in der verzweifelten Hoffnung den entstandenen Schaden zumindest notdürftig kaschieren zu können. Da riss ein weiteres Stück ab. 

  Mirabella saß auf dem Betonsockel der klimaneutralen Betonkabine. Unter runder, milchig glimmender LED-Decke, in schönen blauen Dirndl mit weißem Blumenkettenmuster, saß sie da. Riss und rupfte und zerrte den Schuh, wie verrückt geworden, in Stücke und weinte bitterlich los. 

 Das wurde nichts mehr. War ihr lange klar. Sie hätte die Schönste seihen können. Wie damals sicher ihre Mutter, und davor sicher ihre Großmutter die Schönsten waren auf der Wiesn. Von allen Madeln die Schönste. 

  Als beide Schuhe ganz und gar zerstört um den Sockel verteilt lagen, zog sie aus dem großzügigen Ausschnitt, zum Dirndl gedachtes Spitzentaschentuch und trocknete damit die Tränen. Das nimmerweiße Tuch wurde ganz schwarz vom Tränenliedschattenmisch und segelte wie schwerelos in den Schustückeverhau. Mirabella stand dann auf und stand da. Stand barfuß in ihrem zerbröselten Traum und begann zu frieren.

Außerhalb des Klimabunkers fror niemand. Vor dem stehend, warf sie letzten Blick ins Innere, das wieder gänzlich sauber war. Allen Dreck hatte sie eingesammelt und in den kleinen Rucksack verbracht zusammen mit ihrem Alltagsgewandt. Denn zusätzlich zahlen wollte sie nicht auch noch für Vermüllung öffentlicher Anlagen. Schließlich wusste die Stadt immer, wo sie war, alles, was sie tat. Über alles wusste die Stadt alles, denn ihre Augen waren überall und immer offen. 

Das Madel baren Fußes, zog sich den Atemschutz über, befreite das helle Haar, legte die Gummis darunter und ging dann schnellen Schrittes über den gerissenen Asphalt. Der war schon noch recht heiß. Noch immer aufgeladen von der Sonnenglut des Vortages. Und die Sonne schlich schon wieder hinten am Horizont den Tag hoch. Drohte sich an, mit orangeroten Flimmern über München.

Um die Zeit wahren die Straßen ganz voll Menschen, weil’s so früh am Tag gerade noch erträglich war mit der Hitze. Längst wahren das mehr Schwarze als Weiße. Auch wenn der Unterschied hinter den schmutzig grauen Atemmasken nicht immer leicht zu erkennen war. Mirabella erkannten den Unterschied immer. Dank der neuen Regierung durfte man das ja auch nun endlich wieder sagen, ohne verachtet zu werden, von allen. Schwarze! Die Regierung gab ihr ja auch Recht, wenn sie sagte, dass die Schwarzflut schuld war an allem. 

Als Mirabella klein war, kamen sie. Erst Tausende dann Millionen. Viele von ihnen wurden schon im Mittelmeer versenkt von Frontex und den EU-Streitkräften, die den Kontinent bewahren wollten vor der Menschenwelle. Doch gelungen ist es nicht. Im Laufe der Zeit kamen doch Millionen vom Süden in den Norden hoch. Über die Alpen kamen die und von sonst wo her. Krüppel und Kinder und Frauen. Vor allem Frauen. Die meisten gesunden Männer, so hieß es, sind wohl in den Kriegen draufgegangenen, die überall tobten. So viel Krieg gab es auf der Welt wie noch nie davor. Grenzkriege, Wasserkriege, Landkriege, Bürgerkriege. Mirabella war keine Politische. Sie hatte genug zu schaffen in ihrer kleinen Mirabellawelt. Die ganzen Kriege bei den Schwarzen waren ihr eigentlich wurscht. Die schwarzen Männer sollten nur wegbleiben. Die Afrikaner, Spanier, Italiener, Portugiesen hatten doch in ihrer Kultur keinen Respekt gelernt. Behandelten alle Frauen wie Dreck. Nur das die Welt um den Äquator rum gar nicht mehr bewohnbar war und alles darum zur Wüste wurde, das war ihr gar nicht einerlei. Denn wegen dem kamen sie alle hoch zu ihnen. Und dann versauten sie einem den Tag, weil sie rempelten, und stießen von überall und allen Seiten. 

  Bald würd ihr das besser gehen. Bald würde sie wild tanzen mit lustigen Burschen auf dem guten alten Oktoberfest. Der schönen trauten Wiesn. Letztes Stück vergnügen in all dem Grau und rotorangenen Flimmern. Den schwarzen Menschen versuchte sie besonders auszuweichen. Aus den Kindern, die vor Jahren kamen, wurden ja schon junge Männer. Die wollten ihr nur an die Wäsche. Das war deren Kultur. 

Plötzlich stand einer vor ihr. Kein Schwarzer, ein Weißer. Ein Polizist. Die wahren überall. Die passten auf sie auf, dass die Schwarzflut nicht machen konnten, was sie wollte. 

  „Die Reichenbachbrücke ist gesperrt, da ist Terroralarm. Wenn sie auf das Oktoberfest wollen müssen sie über die Wittelsbacher.“ Mirabella konnte das Gesicht des Polizisten gar nicht sehen durch das dunkle Schutzvisier vom Helm. Und die Stimme des Mannes, sie glaubte schon, dass da ein Mann vor ihr stand. Auch wenn sie sich nicht sicher seihen konnte bei der dicken Panzeruniform. Auch der Ton wurde durch das Atemschutzgerät ganz verzerrt. Trotzdem wird es wohl ein freundlicher weißer Mann gewesen sein, der da vor ihr stand. Erst jetzt begriff sie, dass er gar nicht nur vor ihr, sondern vor einer ganzen Menschentraube stand, zu der sie auch gehörte. Alte weiße Menschen in alten speckigen Lederhosen und alten ausgeblichenen Dirndl mit traurigen müden Augen über dem Atemschutz. Die meisten drehten sich um und gingen einfach weg. Der Weg über die Wittelsbacher war ihnen dann wohl doch zu weit. 

„Mirabella Wagner! Wegen der Verunreinigung des Klimabunkers buchen wir eine Mahngebühr von 30 Globos von ihrem Bürgerkonto ab“ Jetzt hatte sich der Stimmverzerrte doch noch ganz an sie gewandt.

  Mirabella war ganz erschrocken. „Aber ich hab’s doch wieder weg gemacht, alles.“ Ihr schönes bleiches Gesicht sah ganz zerknautscht aus. Wurde zur bitteren Maske aus Unverständnis. Das Visier sah sie an. „Wir mussten Restbestände beseitigen“ erklärte der Panzerpolizist, wandte sich ab und ließ sich von der schwarzgrauen Masse schlucken.

Ihre Füße schmerzten grauenvoll, doch nichts würde sie abhalten. Nicht die 35 Grad, die’s schon hatte und die schnell mehr wurden. Nicht der Säuregehalt in der Luft, der schon wieder den Grenzwert erreichte. Nicht die kreischenden Baumaschinen, die neue Aufsätze auf die Häuser wuchteten, und Aufsätze auf die Aufsätze, die mit Stahl und Müllstoff verklebten und verspannten, und deren Hämmern und Pochen und Sägen alles übertönte. 

Heute war Wiesntag. Da hatte sie so lang gespart drauf. Da hatte sie sich doch so lange drauf gefreut. Und da war dann auch die Brücke. 

  Die Isar war ja nicht mehr wirklich ein Fluss unter der. Das war ein grauer Rinnsal der nach Fäkalien stank und Chemie. Weil’s seit Jahren keinen Schnee mehr gab, der zu Wasser hätte werden können, keine Gletscher. So gut wie keinen Regen mehr. Die Schwarzflut hatte ihr Unglück mitgebracht.

  Warum die Brücke fast leer war, konnte sie nicht sagen. Sie schaute zum Himmel, der ganz bunt wurde, und schön wie jeden Morgen seit Jahrzehnten. Schlierenwolken verdampften schnell im heißen Kommen der Sonnenglut, die aufzog. 

  Da rempelte sie wer hart an, dass sie fast gestürzt währe auf den aufgerissenen Asphalt. Und noch einer von rechts, von links noch einer. Sie sah sich um und sah sie wegrennen die Jungs. Rüpel, Halbstarke, ohne Schutzmasken mit schmutzigen Gesichtern. Vermutlich die Nacht auf der Wiesn verbracht. Ganz voll mit Bierersatz und Übermut. Einer sah sich im Rennen um. Sah ganz erschrocken aus, weil sie Mirabella fast umgerannt hätten. Ach ja, die Jugend. So viel hatten die noch vor sich. So viel mussten die richten, was die Schwarzen angerichtet hatten. So schnell rannten die weißen Jungs, so stark und übermütig wahren die, dass Mirabella laut lachen musste und rufen.

  „Ihr seid schon so. Ihr müsst schon Obacht geben auf die anderen“ 

Dann weiter. Weiter über die Brücke. Zur Wiesn hin. 

Über der Brücke schob jetzt die Sonnenglut in die Stadt. In ihrem grellen Kommen schwamm eine Silhouette ihr entgegen. Wie eine Fata Morgana oder einst ihre Mutter an der Isar mit dem Paket in der Hand, in Zeitungspapier gewickelt. Ein verschwommener Geist. Ein Frauengeist im Kleid. Mit wild zerzausten Haaren. Dunkelschwarze Frau kam ihr entgegen auf der Brücke und in dem schwarzen Gesicht hatte sie ein Lächeln für Mirabella aufgespannt. Warum die hier alle keine Schutzmasken trugen? Beim Näherkommen erkannte Mirabella auch wo’s herrührte, das Lächeln. Ihre Dirndl waren ja fast dieselben. Nur, dass die Frau ganz schöne Schuhe trug. 

  So wenig Menschen auf der Brücke. Der Atem der Frau war ganz schwer, rasselte ungefiltert durch giftige, keimige Luft. 

Mirabella war es gleich, dass das Bier wieder furchtbar schmecken würde, weil’s ja nur noch raffiniertes Urin war. Knallte aber prächtig, wenn man zwei drei Maß bewältigt hatte. Sie würde sich besaufen heute, wie schon lange nicht mehr. Im isolierten Bierzelt könnte man auch über Mittag sitzen, ohne draufzugehen, und da bliesen einem zünftig die Menschen und Maschinen auf echten Blechblasinstrumenten, die Flausen aus den Köpfen. So vollgestopft würd’s sein, dass keiner auf dem Boden schauen würde können, um zu sehen, dass Ihr die Schuhe fehlten. 

Die Schwarzfrau im Dirndl blieb dann vor ihr stehen. Direkt vor ihr. Und jetzt sah Mirabella, dass das kein Lächeln war im Dunkelgesicht. Eine Verzweiflung war das. Ein Schmerz wie eingebrannt für immer und für alle Zeit. Ihr Dirndl war dann auch ganz anders als das ihre – ganz zerstört. Da blieb auch Mirabella stehen. Zum Teil vor Verblüffung, zum Teil aus Mitleid, dass aber auch hilflos war so wie die Frau, mit den schwarzen wilden Haaren in dem blauen Dirndl, das große Löcher hatte, das zerrissen war und schmutzig. Was war da geschehen auf der Brücke. War die Frau der Grund, warum kaum einer auf der Brücke lief? Waren all die Leute weg, weil hier was geschehen war, was keiner sehen wollte, keiner miterleben?

  Sie bückte sich, die Schwarze. Als würde sie sich verbeugen vor Mirabella. Für all das Leid, all den Dreck und die Hitze und das Elend um Vergebung bitten, bei der weißen Schönen. Zog dann die Riemen an ihren Schuhen auf. Die echtledirgen, die mal die Haut von einem Tier wahren, das längst ausgestorben war. Als sie wieder wackelig vor ihr stand und Mirabella zitternd ihre Schuhe reichte, wie ganz selbstverständlich, da wurd’s plötzlich still in der Stadt, als würd die dann doch mal atmen müssen. So wie Menschen manchmal ganz still werden, die immer nur reden und reden, oder Kämpfen und kämpfen, oder weinen und weinen und dann doch mal atmen müssen. Vor Mirabella die Schwarze, blickte sie an aus ihrer Verzweiflung heraus. Blickte durch kondensierende Tränen und riesige Liedschattenpfützen um die Augen. Wie aus einem Horrorfilm blickte die sie an, und ihre Lippen wollten nicht aufhören zu zittern.

  Mirabella nahm die Schuhe. Die Finger von vier Frauenhänden die sich durch warme Riemen berührten, die sie berührten. Dann kehrten die dunklen Hände zurück zur dunklen Frau und zitterten nicht mehr.

  „Danke“ konnte Mirabella hauchen. Gar nicht’s sonst gelang ihr jetzt. Aber „Danke“ konnte sie hauchen. Die schwarzen Frau wollte all das wieder gut machen, was ihr Folk über das Nebelmeer gebracht hatte. Ein Paar Schuhe für den Untergang des Abendlandes. Mirabella reichte das. Weil die Schuhe auch zum Dirndl passten. Weil die Frau jetzt weiter stolperte, weil’s ihr wohl auch reichte für heute. Die Stadt machte weiter mit ihrem Brummen und Knallen und Donnern und Rasseln und Sägen, und Mirabella zog sich ihre neuen Schuhe an, die passten. Dann schritt sie stolz und schön zur Wiesn hin. Jetzt würde sie die Schönste sein.