RING

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Die Fahrradklingel

Imperialistische Maßregelung die, wenn sie ertönt, in erster Linie eines sagt. „Achtung! Hier komme ich! Ich brauche Platz! Ich werde zur Gefahr, wenn man mir keinen Platz macht! Dies ist meine Strecke und ich komme jetzt!“

Ein Grund zum Fremdschämen ist für mich beispielsweise folgender: Ich fahre, wie üblich achtsam und umsichtig durch einen Park. Die Sonne scheint, viele Menschen sind zu Fuß, oder auf diversen Fahrgeräten unterwegs. Ich steuere zügig und ohne Probleme an einer Gruppe Flanierenden vorbei, die mich, Dank angemessener Geschwindigkeit, und seitlichen Abstand zur Gruppe, rechtzeitig wahrnehmen. Hinter mir indes fährt ebenfalls ein Fahrradfahrer. Der sieht Menschen an denen er vorbei muß. Und obwohl ausreichend Platz ist, obwohl er an meinem Fahrverhalten gesehen hat, das gegenseitige Wahrnehmung und gefahrloses Miteinander möglich ist, obwohl alle längst zur Seite tendieren und es rein physekalisch quasi unmöglich währe, dass sich jetzt noch einer der Flanierer Grundlos und in Schallgeschwindigkeit meinem Nachfolger vor das Rad hechtet, erliegt dieser seinem unzähmbaren Reflex zu klingeln. Erst jetzt erschrecken sich die Flanierenden und wissen, was für Schreckmomente typisch ist, erst mal nicht wohin sie jetzt ausweichen müssen. Erst durch das Klingeln wird es gefährlich, was den Fahrradfahrer hinter mir aber nicht daran hindert schon bei der nächsten Gruppe ParkflaniererInnen erneut zu klingen, die Gefahr zu potenzieren und alle in Angst und Schrecken zu versetzen.

Ein Vielklingler, oder eine Vielklinglerin mag das anders sehen: „Ich sorge für mehr Sicherheit im Straßenverkehr, da ich die Fahrradwege, oder die Straßen und BürgerInnensteige die ich mit Fahrradwegen verwechsle freifege von potentiellen Gefahren.“

Mit Gefahren meinen sich die KlingelterroristInnen freilich nicht sich selbst, sondern Kinder, Alte und andere Menschen, denen sie von vorne herein mangelnde Achtsamkeit unterstellen, und die nur Dank ihrer Klingel eine Überlebenschance haben. Nur so lässt sich der offiziell, oder von höheren Mächten vorbestimmte Weg der FahradfahrerInnen, vom lästig Unbill reinigen. Das Verhalten der Angeklingelten scheint den KlinglerInnen Recht zu geben, da diese ja meist tatsächlich oftmals stehen bleiben, oder einen Schritt zur Seite tun, sobald es hinter ihnen losklingelt. Das machen die meisten, weil sie sich erschrecken. Um wie viel sicherer es wird wenn ich Menschen erschrecke bleibt jedoch selbst für die Wissenschaft eine offen Frage. Grundsätzlich zweifle ich an der positive Wirkung des Schreckens im Straßenverkehr.

Fahrradfahrerinnen oder der Fahrradfahrer die bereits von ganz weit hinten klingeln folgten einer ebenfalls üblichen Strategie, deren ursprünglicher Gedanke wohl ebenfalls der Idee der besonders sicheren Fahrweise geschuldet ist. Ob sich Menschen weniger erschrecken, wenn ein schrilles, kreischiges Geräusch von sehr weit Hinten kommt, bleibt zu dem fraglich.

Ich vermute es gibt keine verlässlichen Aufzeichnungen darüber weshalb die Fahrradklingel erfunden wurde. Allerdings kann ich mir vorstellen, ein wesentlicher Grund könnte der mögliche Notfall gewesen sein. Insofern befinden sich die DauerklinglerInnen und ihre Umwelt im permanenten Ausnahmezustand. Ein nachdenklich machendes Phänomen, wie ich finde.

RUHE

In der Arbeit mit Menschen die ein freiwilliges soziales Jahr absolvieren, gibt es diesen Teil des Selbstversuchs. Um Beispielsweise einfühlsamer mit behinderten Menschen zu arbeiten, könnte es helfen selber eine gewisse Zeit mit einem Handikap zu leben. Um blind zu werden benutzen wir Augenbinden. Viele Behinderungen lassen sich mit verschiedenen Hilfsmitteln zumindest für eine gewisse Zeit nachstellen. Doch wie steht es mit der Simulation von Taubheit. Die ist vergleichsweise schwierig herzustellen. Akustische Signale lassen sich nie 100% aus unserem Kopf aussperren, selbst mit dicken Kopfhörern nicht. Auch nicht wenn diese moderne Abschirmtechnik besitzen. Der hörende Mensch ist demnach so gut wie immer allen Geräuschen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Was eben diese Töne mit uns machen, wie gut oder schlecht wir sie verdrängen können ist zum einen eine Frage der Wissenschaft, zum anderen sicher eine sehr individuelle. Dennoch bleibt die Wahrscheinlichkeit hoch, das jedes Geräusch, jeder Ton, jede Musik etwas mit uns macht. Das Lautstärke, Gewohnheit, Natürlichkeit Rhythmus, Taktung dabei eine bedeutsame Rolle spielen.

Heute habe ich mal wieder einen möglichst ruhigen Ort in Berlin gesucht. Die Fabriken und Brachen die um die Jahrtausendwende noch von einer recht Menschen- und somit Autoleeren Stadt umgeben waren, sind fast alle in Wohn- Konsum- oder Eventraum verwandelt worden. In den Straßen, selbst in den kleinen, rauschen mittlerweile täglich 1000 von Autos umher. Im Tiergarten, immerhien Berlins größter und vielleicht sogar schönster Parkanlage (oder ist dies der Treptower Wald? Ich kann mich nicht entscheiden) ist der Lärm all der Fahrzeuge stets als begleitendes Brummen präsent, dies gilt auch für die meisten anderen Parks.

Auf dem Tempelhofer Flugfeld gibt es ein kleines Wäldchen mit ein-zwei Lichtungen an neuralgisch und akustisch günstigen Punkten. In einer kleinen Senke setzte ich mich dort in erstaunlicher Stille auf eine ehemalige Plattform für irgendwas, zog mein T-Shirt aus blinzelte in die Abendsonne und atmete das Entspannungsstartatmen, als eine Gruppe fernöstlicher Trommelkünstler unweit meines akustischen Idylls ein Gratiskonzert begann. Nach einer halben Stunde gab ich auf gegen meinen Inneren Konflikt, „nun sei doch nicht so ein Spießer, ist doch voll toll, daß in dieser Stadt überall alle machen können was sie wollen. Außerdem ist das voll Muli Kulti du konservativer Harmonienazi“ sagte die eine Stimme „aber das klingt wie eine Blechexplosion und ich suche doch gerade expliziert nach etwas RUHE“ sagte die andere. Ihr gab ich dann nach, stieg wieder auf mein Fahrrad, fuhr ein mal an dem ambitionierten Trommelquintet vorbei, entschied mich nicht ganz so vorwurfsvoll zu schauen wie ich es vorhatte und suchte weiter nach RUHE.

Ein Charakteristikum des Treptower Wald, so schön er auch ist, ist, an den wenigen Stellen die nicht von Menschenmassen geflutet werden, das stete Brummen einer Fabrik. Dort wo es ruhiger wird, wird das Brummen freilich um so „lauter“

Alle anderen Parks sind bei weitem nicht so bewaldet und somit regelrechte Verstärker für all die Geräusche die eben alle ParkbesucherInnenn und Besucher so machen. Und ein Ort an dem nicht Züge, Autos oder ähnlich urbane Begleiterscheingen ans Ohr dringen gibt es nicht mehr.

Da viel mir das Südgelände hinter dem Südkreuz ein. Ein herrlich renaturalisiertes Gebiet mit fest vorgegeben Wegen umgeben von ein wenig an Wildnis erinnernder Wildnis. Einst gigantisch entwaldetes Stellwerksgelände der Reichsbahn. Die Bahnlinie ist längst wieder geöffnet und zwar auf beiden Seiten des kostbaren Naturalls. Doch vielleicht dämpft das dichte Grün das stete Zuggerassel. So dachte ich mir. Ich drang möglichst tief ein, also geografisch maximal entfernt von umliegender Autobahn und Stadt. Doch eben an dieser Stelle übte ein reizendes altes Ehepaar das Jodeln. Ich kenne mich ein bisschen aus mit Jodeln, da ich in Bayern aufgewachsen bin. Dies ist auch der Grund warum ich weiß, dass diese beiden noch übten. Und sie standen in ihrer Übungsphase wohl noch recht am Anfang.

Nun sitze ich hier und denke schriftlich über all das nach. Über mir Flugzeugbrummen, vor mir Zuggeratter, hinter mir Zugeratener, unweit von mir ein Jodelkurs, der mit viel guten Willen als solcher erkennbar ist, das tippen meiner Finger auf der Tastatur und Menschenstimmen wie immer und überall nur etwas weniger.

In den 80ern, donnerten gerne die Überschalljets durch die Schallmauern und Angst und Schrecken rieselte, besonderen bei schönen Wetter auf unsere Kinderseelen. In den Wäldern wird zu allen Zeiten gesägt, geschreddert und gerattert. Die Meditation nahe der Streuobstwiese im Garten des Seminarhauses wird von Rasenmäherkreischen und Baustellentammtamm begleitet. Ruhe ist seltener geworden als Gold und Diamanten.

Nun ich muß zugeben, die Bäume um mich herum, der gehörige Abstand zum urbanen Treiben, und vermutlich auch der Akt meiner Nachdenklichkeit Ausdruck zu verleihen, hat mich tatsächlich ein wenig beruhigt. Ich werde wohl noch ein wenig hier herumgeistern, bevor ich zurückkehre in den Schalleintopf der viel zu vollen Stadt. In ein paar Stunden beginnt dann meine Zeit. Um 2 Uhr 3 Uhr Morgens unter der Woche. Berlin schläft nie, aber sie wird vielerorts ruhig um diese Zeit. Da wird Fahrradfahren zur Pilgerreise. Die Eingänge in die Parks zu Kleiderschränken hinter denen ungekannte Zauberreiche warten. Da scheint mir, hebt die Stadt sich aus unruhigen Dämmerzustand und wird wahrhaft Wach und Ruhig um durchzuatmen. Wir, sie und ich, träumen dann von einer Stadt ohne Autos. Mit weniger Menschen die weniger evolutionär bedingte Ängste haben verloren zu gehen in dieser kaleidoskopischen Kakofonie und daher möglichst viel reden und laut reden. Sich möglichst lautes Zeug zulegen. Möglichst viele Dinge, die Piepsen und Hupen und klingeln und Rumpeln.

BALD

Barbara Hipp

2023, nachmittags um drei, ziehen die Wolken über das Land.

Es beginnt schon 2021. Ein Dorflehrer im Süden Frankreichs schickt seine Schüler mit der Aufgabe „die Pflanzen auf einem Quadratmeter Wiese zu zählen“ vor die Tür. Am folgenden Tag sollen sie beobachten, was sich auf dem Wiesenfleck bewegt und einen Tag darauf entwerfen sie eine Skizze zu seiner Besiedelung. Am Ende der Schulwoche kommen die Kinder mit Gemälden der schönsten Pflanze auf ihrem „carré“ nach Hause.

Elternbeschwerden gehen im Rektorat ein – mit dieser Zeitverschwendung soll wertvoller Unterricht nicht vergeudet werden. Ein erster Journalist wird aufmerksam, eine kurze Notiz „Nichtstun im Unterricht – Eltern in Sorge“ wird veröffentlicht. Der Schulträger bittet um offensive Klärung.

In einer öffentlichen Veranstaltung am Nachmittag, mittlerweile gut durchsetzt von Presse und Amtsträgern, wird dieser Bitte nachgekommen: Nach hitziger Debatte entschließt man sich, die Lerneffekte in Selbsterfahrung nachzuvollziehen. Ausreichend Platz bietet die alte Allmende vor dem Dorf, die von Zeichnenden und Abwartenden belagert wird. Man bittet um Ruhe, die allgemeine Aufregung wandelt sich, die Presse verharrt in Spannung.

Nach kurzer Zeit liegt ein Schweigen über der Wiese, einige machen es sich bequemer und liegen auf dem Bauch, andere wenden sich von den Pflanzen ab und wählen lieber ein Stück Himmel, gelegentlich ist ein allergisches Niesen zu hören, selten ein zartes Schnarchen. Ein voreiliger Journalist, wird freundlich darauf hingewiesen, dass er einen bereits belegten Quadratmeter Wiese betritt: „Pardon, c’est mon carré.“

Es ist drei Uhr, ein Dorf in Stille. Die Wolken ziehen.

Was für ein Ereignis. Es wird mit einem Picknick gefeiert. Die Nachbargemeinde will der Entwicklung nicht nachstehen und kündigt eine Folgeveranstaltung mit Gastvortrag an, während ein Pressestreit klären will, ob hier eine ganze Region mit „mon carré“ mutig neue Wege geht oder sich einfach lächerlich macht.

Der Durchbruch geschieht mit einem „mon carré“ -Video, hochgeladen von einer Schülerin. „Mon carré“ wird weltweit ausprobiert, T-Shirts gedruckt, „mon carré -Picknicks veranstaltet, in Kultusministerien gehen Elternanträge ein, „mon carré“ als persönlichkeitsbildende Maßnahme ins Curriculum aufzunehmen; Firmen renaturieren Teile ihres Geländes, um „mon carré“ ins betriebliche Gesundheitsmanagement aufzunehmen; pollenarme Wiesenmischungen werden gezüchtet, damit auch Allergiker an den entspannten Beobachtungen teilhaben können. Zwischen drei und vier Uhr am Nachmittag kehrt Ruhe ein, es ist Zeit für die Wiese. Stille. Die Wolken ziehen.

 

SPALTEN

Klaus Maria Brandauer sprach in einem aktuellen Interview in der SZ, während er von der EU sprach „…nicht von einem Problem, sondern von der Lösung“. Wenn sich nun ein ganzes Land von dieser Lösung abwendet, oder zumindest ein Großteil deren wahlberechtigter und wahlbereiter Bevölkerung, stellt sich die Frage; Wendet sich dieses Land von der Lösung ab. Herr Brandauer geht nicht direkt darauf ein für was Europa die Lösung ist, so doch indirekt. Er erinnert daran, dass es vor der Wende, also vor dem Europa welches seit 1989 an einem gemeinsamen Wertekodex arbeitet, keinen Frieden gegeben hat.

Das sollte sich eine jede und ein jeder ein mal auf der Zunge zergehen lassen. Es ist nicht etwa so, dass es vor der europäischen Union seit dem 30jährigen Krieg selten Phasen des Friedens gegeben hat. Es ist so, dass vor dem Brüsseler Pakt ausschließlich Krieg in Europa herrschte. In einer Zeit der wachsenden Klüfte, der sich öffnenden Scheren und der dipolaren Verwerfungen, den Spaltkeil tiefer in das friedenstiftende System, das global einzigartige Experiment nachhaltiger übernationaler Verbindungen zu treiben, scheint mir Lichtjahre entfernt von einer gut entwickelten, wohl überlegte, mehrheitlichen Entscheidung. Dies alles wirkt wie das der böse Zerrspiegel des irrigen Prozedere welches 1989 am Ende für den Fall der Mauer verantwortlich war. Eigentlich ebenso ungewollt und doch passiert, verändert dies, was soeben noch undenkbar war, nun alles. Und diesmal sicher nicht zum Guten. Es sei denn…