RUHE

In der Arbeit mit Menschen die ein freiwilliges soziales Jahr absolvieren, gibt es diesen Teil des Selbstversuchs. Um Beispielsweise einfühlsamer mit behinderten Menschen zu arbeiten, könnte es helfen selber eine gewisse Zeit mit einem Handikap zu leben. Um blind zu werden benutzen wir Augenbinden. Viele Behinderungen lassen sich mit verschiedenen Hilfsmitteln zumindest für eine gewisse Zeit nachstellen. Doch wie steht es mit der Simulation von Taubheit. Die ist vergleichsweise schwierig herzustellen. Akustische Signale lassen sich nie 100% aus unserem Kopf aussperren, selbst mit dicken Kopfhörern nicht. Auch nicht wenn diese moderne Abschirmtechnik besitzen. Der hörende Mensch ist demnach so gut wie immer allen Geräuschen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Was eben diese Töne mit uns machen, wie gut oder schlecht wir sie verdrängen können ist zum einen eine Frage der Wissenschaft, zum anderen sicher eine sehr individuelle. Dennoch bleibt die Wahrscheinlichkeit hoch, das jedes Geräusch, jeder Ton, jede Musik etwas mit uns macht. Das Lautstärke, Gewohnheit, Natürlichkeit Rhythmus, Taktung dabei eine bedeutsame Rolle spielen.

Heute habe ich mal wieder einen möglichst ruhigen Ort in Berlin gesucht. Die Fabriken und Brachen die um die Jahrtausendwende noch von einer recht Menschen- und somit Autoleeren Stadt umgeben waren, sind fast alle in Wohn- Konsum- oder Eventraum verwandelt worden. In den Straßen, selbst in den kleinen, rauschen mittlerweile täglich 1000 von Autos umher. Im Tiergarten, immerhien Berlins größter und vielleicht sogar schönster Parkanlage (oder ist dies der Treptower Wald? Ich kann mich nicht entscheiden) ist der Lärm all der Fahrzeuge stets als begleitendes Brummen präsent, dies gilt auch für die meisten anderen Parks.

Auf dem Tempelhofer Flugfeld gibt es ein kleines Wäldchen mit ein-zwei Lichtungen an neuralgisch und akustisch günstigen Punkten. In einer kleinen Senke setzte ich mich dort in erstaunlicher Stille auf eine ehemalige Plattform für irgendwas, zog mein T-Shirt aus blinzelte in die Abendsonne und atmete das Entspannungsstartatmen, als eine Gruppe fernöstlicher Trommelkünstler unweit meines akustischen Idylls ein Gratiskonzert begann. Nach einer halben Stunde gab ich auf gegen meinen Inneren Konflikt, „nun sei doch nicht so ein Spießer, ist doch voll toll, daß in dieser Stadt überall alle machen können was sie wollen. Außerdem ist das voll Muli Kulti du konservativer Harmonienazi“ sagte die eine Stimme „aber das klingt wie eine Blechexplosion und ich suche doch gerade expliziert nach etwas RUHE“ sagte die andere. Ihr gab ich dann nach, stieg wieder auf mein Fahrrad, fuhr ein mal an dem ambitionierten Trommelquintet vorbei, entschied mich nicht ganz so vorwurfsvoll zu schauen wie ich es vorhatte und suchte weiter nach RUHE.

Ein Charakteristikum des Treptower Wald, so schön er auch ist, ist, an den wenigen Stellen die nicht von Menschenmassen geflutet werden, das stete Brummen einer Fabrik. Dort wo es ruhiger wird, wird das Brummen freilich um so „lauter“

Alle anderen Parks sind bei weitem nicht so bewaldet und somit regelrechte Verstärker für all die Geräusche die eben alle ParkbesucherInnenn und Besucher so machen. Und ein Ort an dem nicht Züge, Autos oder ähnlich urbane Begleiterscheingen ans Ohr dringen gibt es nicht mehr.

Da viel mir das Südgelände hinter dem Südkreuz ein. Ein herrlich renaturalisiertes Gebiet mit fest vorgegeben Wegen umgeben von ein wenig an Wildnis erinnernder Wildnis. Einst gigantisch entwaldetes Stellwerksgelände der Reichsbahn. Die Bahnlinie ist längst wieder geöffnet und zwar auf beiden Seiten des kostbaren Naturalls. Doch vielleicht dämpft das dichte Grün das stete Zuggerassel. So dachte ich mir. Ich drang möglichst tief ein, also geografisch maximal entfernt von umliegender Autobahn und Stadt. Doch eben an dieser Stelle übte ein reizendes altes Ehepaar das Jodeln. Ich kenne mich ein bisschen aus mit Jodeln, da ich in Bayern aufgewachsen bin. Dies ist auch der Grund warum ich weiß, dass diese beiden noch übten. Und sie standen in ihrer Übungsphase wohl noch recht am Anfang.

Nun sitze ich hier und denke schriftlich über all das nach. Über mir Flugzeugbrummen, vor mir Zuggeratter, hinter mir Zugeratener, unweit von mir ein Jodelkurs, der mit viel guten Willen als solcher erkennbar ist, das tippen meiner Finger auf der Tastatur und Menschenstimmen wie immer und überall nur etwas weniger.

In den 80ern, donnerten gerne die Überschalljets durch die Schallmauern und Angst und Schrecken rieselte, besonderen bei schönen Wetter auf unsere Kinderseelen. In den Wäldern wird zu allen Zeiten gesägt, geschreddert und gerattert. Die Meditation nahe der Streuobstwiese im Garten des Seminarhauses wird von Rasenmäherkreischen und Baustellentammtamm begleitet. Ruhe ist seltener geworden als Gold und Diamanten.

Nun ich muß zugeben, die Bäume um mich herum, der gehörige Abstand zum urbanen Treiben, und vermutlich auch der Akt meiner Nachdenklichkeit Ausdruck zu verleihen, hat mich tatsächlich ein wenig beruhigt. Ich werde wohl noch ein wenig hier herumgeistern, bevor ich zurückkehre in den Schalleintopf der viel zu vollen Stadt. In ein paar Stunden beginnt dann meine Zeit. Um 2 Uhr 3 Uhr Morgens unter der Woche. Berlin schläft nie, aber sie wird vielerorts ruhig um diese Zeit. Da wird Fahrradfahren zur Pilgerreise. Die Eingänge in die Parks zu Kleiderschränken hinter denen ungekannte Zauberreiche warten. Da scheint mir, hebt die Stadt sich aus unruhigen Dämmerzustand und wird wahrhaft Wach und Ruhig um durchzuatmen. Wir, sie und ich, träumen dann von einer Stadt ohne Autos. Mit weniger Menschen die weniger evolutionär bedingte Ängste haben verloren zu gehen in dieser kaleidoskopischen Kakofonie und daher möglichst viel reden und laut reden. Sich möglichst lautes Zeug zulegen. Möglichst viele Dinge, die Piepsen und Hupen und klingeln und Rumpeln.

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