aufgewacht – die Mönchin

Die Mönchin

Von Dion M. Beeck

Anton kniff die Augen hinter der Sonnenbrille zusammen. Sonnenaufgang. Das Meer der Nacht aus dem sie aufstiegen, klebte an ihm wie zäher warmer Teer. In kontinuierliches Rauschen aus Fahrtwind, seinem und dem Atmen seiner Kinder, dem „Roten Rauschen“, so nannten es Sybille, mischte sich kaum hörbares Summen. Der beunruhigende Klang eines daumennagelgroßen, müden Fliegenphantoms hinter den Armaturen. Wann hatte das angefangen? Vor ein paar Stunden, ein paar Tagen? Für gewöhnlich wehte die Brennstoffzelle unter der Haube des Mirai nicht lauter als ein sachter Wind. 

Anton lugte nach rechts. Möglichst nebenbei. Möglichst unbesorgt. Auf dem Beifahrersitz schlief Ari, versunken in ihrer grauen Decke, wie die schlummernde Blüte in Antik, versteinerter Koralle. Die dunkelhaarige Zaubernixe ruhte sanft, der Kopf sacht treibend in einem Meer aus schwarzen Haarwellen, die sich in den geschwungenen Muschelrand ergossen. 

Seine schöne Tochter. Er erlaubte, mit einer Berührung seines Fingers auf dem Pad, dem Wagen die Durchlässigkeit der Scheiben dem externen Lichtpegel anzupassen. Sofort wurde es dunkler. Draußen riss in Zeitlupe, nahe gelegener Fixstern, das gähnende Tor zur Hölle in den Himmel auf.

Er hoffte, das Erwachen der Zaubernixe ein wenig hinauszuzögern. Er war nicht erpicht darauf, die Wandlung in die Donnerhexe zu erleben, in die sich die schlafende Sanftmut dann verwandeln würde. Er grinste von einem Ohr zum anderen.

Der Mirai glitt durch die karge Hochebene, gleich einem, durch mächtigen Zauber, gebremstes Photon. Mit jedem Kilometer wuchsen die Felsen höher, wurden die wenigen Büsche kleiner. Bis die hartnäckigste Knochenflechte keinen Partikel Wasser mehr in der Erde fand und zu Staub zerfiel. 

Es hieß, das kollabierende Wettersystem zwischen dem Toten und dem Kaspischen Meer, sei für den grünen Dunst verantwortlich. Klebriger Pesthauch, der die Hitze und die wolkennahen Schadstoffschlieren in ein extrem toxisches Amalgam wandelte. 

Die Sauerstoffvorräte wurden knapp nach der letzten Panne bei Beslan. 

Die Methanwehrte dort hatten sie gezwungen, während des Reebots des Mirais die Masken zu tragen. Zwei Stunden Wartezeit. 

Er hockte mit seinen Kindern auf schorfigen Felsen, komplett verschollen zwischen Wüsten und Bergen, ländergroß in alle Richtungen des Himmels. 

Der Gedanke, dass er sich und seine Familie, im Zuge der Umsetzung der dümmsten Idee aller Zeiten, geradewegs in Dantes Inferno manövriert hatte, war ihm zu diesem Zeitpunkt schon recht vertraut. Nachdem die Warnanzeige an Aris Sauerstoffversorgung von Grün auf Gelb switchte, drohte ihn dieser Gedanke vollends zu lähmen. Kurz vor Einsätzen des Blankes Wahnsinns schickte ihm der Wagen die erlösende Nachricht.

>Systemausfall korrigiert – Fahrzeug betriebsbereit<. Der Geschmack von Offenbarung. Wie ein kühler Schluck sauberen Wassers aus heiliger Quelle. 

„Es kann weiter gehen“.

Seine Stimme versuchte den Kindern Zuversicht zu verkaufen. An der Art, wie sie ihn ansahen, wurde deutlich, der faule Handel war gescheitert.

Sie alle drei wussten, das Selbstreparatursystem des Mirai war am Ende. 

Sie hatten ihm das Beste mitgegeben. Seiner Suche. Ihrer Hoffnung. Der Wagen war so vollgestopft mit Technik und Innovation, dass er sich die ersten paar 1000 Kilometer wie Jams Bond persönlich fühlte. Oder besser, der Bond Boy auf dem Beifahrersitz. Denn bis Tschernobyl fuhr Sibylle die meiste Zeit.

Ihr dunkler Stoppelhaarschnitt war die Krone der zielverwobenen Königin. Die Augen zu leichten Schlitzen verengt im, sanft kantigem Gesicht mit immer wieder kreisendem schmalen Unterkiefer. Ihre nachtdunkle Haut, ihre seltsamen grünen Augen, ihre alles berührende Schönheit. Manchmal sah sie ihn an. Sie ließ den Mirai nie lange alleine fahren. Zu grosses Risiko. Tausende deffekte oder tote Satelliten. Überalterte Technik, die von Weltraumschrott zerlegt, in vereisende Schaltkreise verging. 

„Wir werde etwas finden“ flüsterte sie, um die Kinder auf der Rückbank nicht zu wecken. Er sah aus dem Seitenfenster die vielen grünen Bäume hinter der Sperrzone an, wie sich die Abenddämmerung darüber legte, während er über ihre Worte nachdachte. Verheißung oder Frage?

Er wollte sie küssen. Er war zu müde. Er blickte aus dem Fenster und nickte. Und glaubte nicht daran.

„Er bleibt gleich wieder stehen“ knurrte Ari neben ihm. Er sah nur die Decke. Die graue Korallenstruktur, die über ihren Kopf wuchs. Aus der ihm abgewandten Seite der bizarren Mönchshaube sah sie müde aus dem Seitenfenster. Ihre Pupillen, der exakte Mittelwert der Augenfarben ihrer Eltern, dunkelgrünes Blinken. Rechtslinks, Rechtslinks, Rechtslinks. Was Menschenaugen eben machen, wenn sie während der Fahrt versuchen vorbeiziehendes in Sekundenbruchteilen zu fixieren. Ausreichend Zeit zu gewinnen, um zu begreifen, wie der Millisekunden kurze Lichtreiz zu verifizieren sei. Und aus der absurden Mühe, alles zu begreifen, wird statt Begreifen ein Fluss. 

Aris Bewusstsein trieb entkoppelt nebst zuckenden Iren in zeitgelöster Meditation in rostbrauner Felswelt. Sie lauschte dem Knistern der Steine. Thermodynamische Effekte machten die Moleküle in deren Innern tanzen. Die weißlichen digitalen Lettern der Cockpituhr trieben die Sekunden voran. Eine um die andere. Vor den Sekunden behauptete die Uhr 7:58:. Die Außentemperatur wurde zwei Meldungen weiter mit 34,14 Grad angegeben. 

Die Anzeigen erloschen, der Wagen rollte aus, ihr Vater schloss die Augen.

„Hab ich doch gesagt“ hörte er sie über das COM fast aus Versehen ausatmen. 

Tränen hinter dem Glas der Schutzmaske machten nichts einfacher. Anton wollte nicht weinen. Er dachte an die desaströsen Effekte die Tränen im Weltraum haben konnten. In hermetischen Systemen wuchsen, die in der Schwerelosigkeit zu schwebenden Riesentropfen an und dem Astronauten der sie weint, droht, in ihnen zu ertrinken. 

Doch das war nicht der Weltraum. Nur ein Teil von ihm. Der Kaukasus. Unter den Umständen und dem richtigen Licht musste er nicht befürchten, dass Ari und Ben seine Tränen bemerkten. Anton öffnete die Hintertür des Wagens und reichte seinem Sohn die Hand. Der Handschuh schwebte über dem Kind ähnlich einem lebendigen Haken, den es zu greifen galt. 

„Ben! Wir ziehen dir den Schutzanzug an. Wir machen einen Spaziergang.“ Durch den Helm klang die Stimme des Vaters wie Unterwasser. Stieg auf aus einem Aquarium, gefüllt mit Tränen. Die rechte Hand des Jungen schien zu salutieren, was in Wahrheit nur seine Augen schützten sollte. Die Sonne umfloss den Vater wie gleißende Flüssigkeit, während der sich zu ihm über die Rückbank beugte und Bens freie Hand in die seine einlud. 

„Spaziergang in den Tod!“ konstatierte Ari drei bis vier Meter hinter Anton, der seinem Sohn aus dem Wagen half. Schnell in den Schutzanzug.

Er zwinkerte sich, so gut es ging, den Blick trocken um das Notsystem über das Handy zu aktivieren. Bens Griff in seinem Handschuh war schwach. Müde, ängstlich. Seine Vaterhand spielte Stärke, Zuversicht. Die andere zündete die Leuchtraketen aus dem Mirai. Eine Rote eine Grüne eine Blaue. Der pompöse Staatsakt eines dreiköpfigen Volkes. Die aufsteigenden Landesfarben meldeten ihren Anspruch auf dieses staubtrockene Land an. Dem Land und dem Weltraum, war es dann doch ein bisschen egal, ob das jemand wahrnahm. 

„Wir gehen nach Südost.“ Mehr fiel Anton nicht ein. Er sah sich zu Ari um. Das Glas ihrer Maske war beschlagen. So musste er ihren Blick nicht sehen. 

„Niemand wird kommen.“ Hörte er sie ausatmen und ging mit seinen Kindern bei über 40 Grad Celsius, Temperatur schnell ansteigend, tiefer in den Kaukasus.

Währen die meisten Menschen in erster Linie rational denkende Wesen, die sich an Evidenzen und physikalischen Markern orientierten, hätten wir uns, vermutlich zwei Weltkriege, die menschengemachten Klimakatastrophe, zahllose selbst verschuldete Krisen und aufblasbare Trockenhauben sparen können. Nur währen wir dann auch keine Menschen. All-inclus Geschöpfe wie wir, so sinnierte Anton, während er mit seinem kleinen Sohn an der Hand durch karges Schotterfeld stiefelte, hangeln sich dummklug von Überraschung zu Überraschung, von Untergang zu Neuanfang. 

Gott, es war seine Idee gewesen. Er hatte alle überzeugt. Sibylle, Ari, die Kolleginnen und Kollegen im inneren Kreis des Science Konzil. Sie sagten, die Entfernung ist zu groß. Das Klima für einen Großteil der Strecke zu toxisch. Die Daten lückenhaft. Aber er zwang ihnen denselben Glauben auf, den er sich aufzwang. Den Glauben daran, dass es da draußen im Kaukasus etwas gab. Die Daten mochten lückenhaft sein, doch sie wahren vielversprechend. 

Am Ende des Tages oder zu Beginn dieses Tages, der vielleicht ihr letzter werden würde, spielten Daten keine Rolle. Wie Billiarden Menschen vor ihm entlarvte er, zu spät versteht sich, seine Hoffnung als rein subjektive emotionale Mixtur. Hoffnung angerührt mit Agonie, Sturheit und Sehnsucht. Die Sehnsucht nach dem Licht am Ende des Tunnels. Doch stattdessen kommt ihnen inmitten des Tunnels ein Zug entgegen. Überraschung! Nur leider keine gute.

Aus der Vogelperspektive, einer jener Begriffe, die in Ermangelung an Vögeln in Vergessenheit geriet, stiefelten drei Gestalten, groß, kleiner und klein, durch nacktes Gestein, Felsen und Berge, von beschvioleten Giftdunst umwabert, in Richtung Irgendwo. Und da, einem ungeschriebenen kosmischen Gesetz zu Folge, auf 10 schlechte Überraschungen meist eine gute folgte, schälte sich aus dem dichten Dunstbrei des Horizontes, dem Vater und seinen Kindern ein Fluggerät in den Blick. 

Ben sah es zuerst. Zur Marionette verzaubert, bewegte sich allein sein rechter Arm gen Himmel. Der Zeigefinger des Schutzhandschuhs wippte stumm in der Giftluft das Unbegreifliche fixierend. Dann blieben sie stehen. Aller drei. Sahen es kommen. Die vermeintliche Reflexion der aufgehenden Sonne, ein fehlschimmernder Fleck in ca. 300 Meter Höhe, verdichtete sich schnell zu etwas Realem. Aus den Schlieren wuchs ein Zeppelin. Kleinwüchsiges schwebendes Vehikel, dessen sechs bis acht Rotoren den Giftdunst in farbige Spiralwirbel drehten. Detail um Detail taute aus gerinnender Unschärfe – ein Luftschiff. Graubraun geblähter Zylinder, untere dem kleiner, doch ähnlich die Zigarrenform, metallische Gondel. >>seht ihr das auch<< – der ungehörte Gedankenchor der drei. 

„Was ist das?“ löste sich Bens Stimme, atemlos, in die Funkstille. 

Anton antwortete „Etwas – das Menschen gebaut haben“

„Sehen die uns?“ Von der Funkverzerrung unbeeindruckt, quollen mit Aris Frage auch all ihre Angst und ihre Hoffnung aus den Hörern in die Helmen der Familie.

Anton antwortete „Das müssen sie!“ Der kosmische Marionettenspieler hob Antons Arme über dessen Kopf. Ließ sie wie Flügel wedeln. Setzte ein Bein vor das andere. Der kleine Mann im fahlweißen Schutzanzug neben ihm wurde vom Wedelvirus infiziert und bewegte sich ebenfalls zur spontan vereinbarten Choreografie. 

Aus Sicht des Puppenspielers gingen da zwei Astronauten durch karge Planetenoberfläche, armrudernd, auf ein bizarres Fluggerät zu. Sekunden später knatterte der ignoranter Aufblassaurier dann über die drei hinweg in Richtung Hoffnungslosigkeit. Der kosmische Marionettengott besaß Sinn für Dramatik. So drehte er, in angemessener Langsamkeit, ein echter Puppenpielerkunstgriff, den Kopf der Astronautin. 

  Ari sah sich um. Sie schaute dem Luftschiff nach. Sie vernahm, trotz des Helms, sein elektrisches Schnurren. „Die fliegen weiter…“ 

Ben und Anton hörten sie nur allzu deutlich. Sie standen einige Meter entfernt, erst reglos, dann hasteten sie wieder los. Wie gehabt, armrudernd wie flugstartende Albatrosse. Diesmal in die andere Richtung.

Ari sagte es noch einmal, weil sie sich selbst nicht glauben wollte. 

„Die fliegen einfach weiter.“ Dieses Mal gelang es dem knisternden Funk die Hoffnung rauszufiltern. Die Albatrosse rannten links und rechts an ihr vorbei, dem Luftschiff hinterdrein. Minuten später war es wieder nur ein Punkt im Wolkendunst. Diesmal allerdings ein strahlender, die aufgehende Sonne reflektierender, schrumpfender Stern. 

  Ben kniete keuchend am Boden. Er sah, wie sein Vater einige Meter vor ihm, ebenfalls nicht weiter laufen konnte. 

„D… die die“ nur keuchen gelang Anton, nicht reden.

„Die Sauerstoffversorgung ist am Limit“, half ihm Ari den Satz zu beenden. „Ihr Atmet zu schnell. >Auf keinen Fall mit dem Anzug rumtoben<. Das wahren deine Worte.“ Sie wechselte in den Ätzmodus. Der ätze alles weg, was wehtat. Jeden Verlust. Unter dem Schmerz und der Angst, brodelte die Wut. Die ätzte sie frei. 

„Als ob es das erste ist was wir machen würden, wenn wir diese Scheißnotfallanzüge anziehen müssen. Wir toben rum. Jetzt tobst du rum, wie ein Irrer. Weil du nie, nie, nie, nie nie, nie, begreifen willst wann etwas vorbei…“

„Die, die kommen zurück.“ Sagte ihr Vater.

Anton sah es, Ben sah es und Ari sah es auch durch die Spucketropfen an der Innenseite ihres Visiers. Der Stern, er wuchs.

Anton war der Letzte. Er nahm die Metallleiter, die die ominöse Besatzung des fliegenden Wunders ausgefahren hatten. Seine Erwartungen, diffus. Aber vielleicht war der Teil seines Lebens, schon vor Tagen, vor Wochen unbemerkt zu Grabe getragen worden, der es gewohnt war, sich an einem Geländer aus Antizipationen entlang zu bewegen. 

  Einer Gruppe zu begegnen, die über ausreichend Ressourcen und Energie verfügten um aus großen Mengen gasdichter Stoffe, Bambus, Leichtmetallen und Unmengen bunter Fähnchen, ein flugtüchtiges Luftschiff zu bauen, sprengte alle seine Erwartungen. Und schon gar nicht hätte er erwartet, zu sehen, was er sah, als er die letzten Leitersprossen nahm und in die Eingangsluke kletterte.

  Kinder. Mädchen und Jungen, von 8, bis 18 Jahren, saßen verstreut in geräumiger Kabine in Kissen und auf Matten, die Gesichter neugierig bis misstrauisch auf die drei Neuankömmlinge gerichtet. Ben thronte schon in Heimkehrerposse zwischen zwei älteren Jungen, die an seinem Schutzanzug rumfuhrwerkten. Ari strahlte etwas anderes aus, wie sie so in der Gondel stand und den Blick durch die großen Fenster richtete, die einen Großteil der oberen Hälfte der Gondel ausmachte. Prächtig geeignet um eine ausgiebige Aussicht über die Weite der zerklüfteten Hochebene zu gewinnen, aus der ringsum braunrote Berge wuchsen. Die schlierigen, toxischen Schichten, schwerer Gasverbindungen, zogen vor allem nahe den Flechten, denen sie entstiegen, ihre Bahnen. Wenige Meter über der Oberfläche verflüchtigten sie sich. Gaben den Blick frei auf das Kaukasusgebirge. Ari strahlte aus, was sie meistens aufstrahlte. Seit dem Tod ihrer Mutter. Unnahbarkeit. Ein Odem, der von allen gerochen wurde. Nicht ein Kind, welches ihr zu nahe kam.

  Ein Mädchen mit rotem Gesicht und Urwaldfrisur, um die 15, half Anton in die Gondel. Dann knallte sie die Unterseite ihrer Faust auf einen großen, ebenfalls roten Knopf in der Metallwand und das hydraulischen Gestänge schloss die Luke. Sie stellte sich vor Anton, der zu allem wurde, was dieser Augenblick mit ihm machte. Irgendwer öffnete von hinten die Halterung seines Helms. Er ließ es geschehen. Muskuläre Gesichtsverwirrung aus Dankbarkeit, Scham, Verwirrung, Freude, Angst und Liebe wurde sichtbar. 

  Dem Mädchen rutschte ungewollt ein Grinsen über das rundliche wachsame Gesicht. Der neue Passagier hatte offenbar nicht alle Tassen im Schrank. 

„Danke, dass, danke für…“ der Stoppelbart suchte nach Ausdruck, der Mund nach Worten. Ihr Kopf zuckte in Richtung der Spitze der Gondel. „Dank ihm.“ Knappe Erklärung, ein Schritt zur Seite. Er folgte ihrer Geste. Sah Ari, die ohne Helm da stand und ihn ansah. War da ein Lächeln? Ari lächelte! Große schmutzige Fenster, die die gesamte Kabine kränzten, wandelten Ari in lächelnde Endzeitmadonna. Um sie sank die Welt von ihnen fort. Sie stiegen wieder. Flogen in die Richtung zurück, aus der der Zeppelin gekommen war. 

Ganz vorn, im Cockpit, sass der, dem er zu danken hatte. Dem kleinen Mann am Steuerrad stand ein breites Lächeln im grauen Bart. Er wandte sich für einen Moment von seinen, gotisch anmutende Instrumenten ab, zu ihnen um, und winkte mit einer Hand die Ankömmlinge zu sich.

  „Ein Traum!“ Die drei Schutzanzüge ruhten jetzt, in ordentliche Bündel gelegt nebeneinander auf einer Metallkiste am Rand der Gondel. Nur einer der Helme tobte mit kleinem Jungen darin durch ihr Inneres. Der spielte durchgeknallten Roboter. Die Bewegungen der vermeintlichen Menschmaschine dengelten abgehackt gegen kichernd bis genervte Besatzungsmitglieder. Das groteske Geschöpf rammte Kisten und Bordwand, tapte rückwärts ins Ungewisse. Durchgeknalltes Roboterzeugs eben.

„Ich war sechs oder sieben, das müßt ihr euch mal vorstellen!“ Anton, Ben und Ari standen vorne in der Gondel um den farbblinden Captain Kirk. Dunkle Haut, grauer Vollbart, Glatze und einen Mund, der eine seltsame Satzkonstellation an die andere reihte.

„Ich landete mit meiner Fassrakete im Pausenhof meiner Schule und alle kamen angelaufen und standen um mich rum wenn ich rauskletterte. 

Ben hielt sich am Ärmel der leichten Jacke seines Vaters fest. Die Geschichten des fossilen Piloten okkupieren sein Gleichgewichtssystem. 

  Während der alte Herr konstatierte, wie mysteriös verwoben die Welt doch sei, die im Zuge allen Untergangs, Kindheitsträume war werden ließ, machte sich Antons Blick auf Wanderschaft. 

„Ihr tragt schicke Klamotten unter den Schutzanzügen. Die auch; alles Massanfertigungen, bestes Zeug. Lasst mich raten – ihr kommt vom Science Konzil! Der einzige Laden auf’m Kontinent der so was noch machen kann.“

Da schaukelten Spaten, Hacken, kleine Schaufeln und Stecher, Grabgabeln und diverses Gartengerät in Seilen, Tüchern und an Haken. War das hier eine fliegende Gärtnerei?

  Die Kinder sahen gut genährt aus. Anton erinnerte sich kaum. Wann hatte er das letzte Mal zwei duzend gesunde Kinder auf einen Haufen gesehen? 

  „Alles kleine Expertinnen und Experten.“ Der Alte grinste, stolz. „Die Böden entgiften sie mit phytoremediativen Pflanzen, Zwei händevoll hochpotenter Muttererde machen 10 Kubikmeter schlafende Böden wieder fruchtbar. Da hinten, die Fässer…“ Er lenkte die Blicke seiner Gäste mit einer ruckartigen Kopfbewegung in das fensterlose Heck der Gondel. Anton machte an die 10 große, schwarze Metallfässer aus.

  „Ich versteh dass alles nicht?“

Ari! Anton hatte schon drauf gewartet. Das Ende des Schweigens der schwelenden Donnerhexe in ihr. Noch klang sie höflich. Doch mit nie endenden Monologen alter Männer, verlor Ari in aller Regel, eher über kurz als lang, jede Geduld.

„Wo kommt ihr her? Wo wollt ihr hin? Wer sind sie eigentlich? Und wie seid ihr mit eurem Steelpunkzeppelin aus irgendeinem fucking Fantasycomic rausgekommen um über dem Kaukasus zu kreisen? Wo fliegen wir eigentlich hin?“

„Eins nach dem anderen junge Dame. Alle Deine Fragen….“

FUCK! Donnerrollen. >problematische Kommuni- kationsstrategie<, dachte Anton lauter, als er wollte. Sein Grinsen suchte ebenfalls die Öffentlichkeit. Aris Blick verdunkelte sich. Nett Ende!

„Ihre Kindheitsgeschichten sind wirklich rührend. Aber wir sind da draussen im Giftdunst fast verreckt. Das war bisher der Höhepunkt unsres wochenlangen Höllenritts durch die Fucking Apokalypse, die wir Relikten wie ihnen zu verdanken haben. Beschissene Raketenphantasien. Wir brauchen…“ Ben schob sie etwas beiseite. Er wollte zu dem Roboterjungen, war schon vom Ruckelmove infiziert. 

Ari, eine Sekunde irritiert, fand den Faden wieder. „..also, ich brauch jetzt kein BlaBla von… von…“

Anton wusste, das sie sah was er sah. Er wusste, dass es ihr die Sprache verschlug, da sie ihren Augen nicht tauen konnte. Er wusste es, weil es ihm genauso ging.

„Elysium“ sagte das Lukenmädchen, das jetzt bei ihnen stand. War das der Name dieses Ortes? Ihr Wort dafür? Ihr Name? Bei ihnen standen nun fast alle Kinder und Jugendlichen aus der Gondel. Die Jüngeren hatten sich zusammen mit Ben in durchgeknallte Roboter verwandelt. Drei mit Helmköpfen, die anderen, was sie zu greifen bekamen. Sprenkelanlagenhelme leere Eimerhelme, Gießkannenhelme. Ein skurriler Zwergen- tanz zu lautlosem Techno. Hintergrundperformanz, während der Zeppelin auf das Schönste zu schwebte, dass Anton je gesehen hatte. 

Die Grüne Insel, die da aus braungrauer Felsenwelt wuchs, umwucherte eine riesige Ruine. Antike Mauerreste die sich in unterschiedliche große Höfe auffächerte. Nicht ganz zentral, inmitten der größte dieser Waben, hockte ein klobiger Turm. Eine Seite aufgelöst von Wind, Zeit und Wetter. Die Mauerwaben wahren Gärten. Im Kranz prall gefüllter Obstbäume und blühender Stauden wuchsen eine Vielzahl an Früchten und Gemüse in wilden Beten die wie flüssiges Mosaik ineinder flossen. 

Überall Kinder. Spielend, arbeitend, lachend, staunend aufblicken, weil da der Zeppelin zurückkam. 

Das Wachstum erstreckte sich kilometerweit um die Ruine, bis weit an die Berge rückend, die die Hochebene säumten wie glühend heiße Wächter aus Granit und Gneisen. Doch sie flogen direkt zum Zentrum, in das dorfgroße grüne Herz einer ökologischen Unmöglichkeit. Da war Wasser. Fiel Wasser. Teiche und Gumpen in Mauerwaben verbunden durch ein Netz aus hölzerne Wasserläufe. Das Wasser speiste eine vegetarische Vielfalt und Opulenz die Anton beinahe den Versand raubte. Vögel zogen über dem Paradies. Einzeln und in Schwärmen. Unzählige Vögel.

„Na, eine Antwort haben wir ja schon auf deine Fragen, junge Dame. Hier bringen wir euch hin, hier könnt ihr erst mal eure Kräfte sammeln.“ Der Alte zog an armlangen Metallhebeln, mit der anderen Hand das halbrunde Steuerrad fest im Griff. Schob das sacht doch bestimmt nach vorn. Das Luftschiff landete.

Anton kannte die Szenerie aus alten Berichten und Filmen. Meist europäisch anmutende Reisende, die erhaben und doch gerührt durch ursprüngliche Dörfer schlenderten. Umspült von neugierigen Wellen lachender und staunender Kinder, die in ihrem Leben weder hellhäutigen Menschen, noch maßgeschneiderten Hemden, Kakihosen und Tropenhelme gesehen hatten.

Ben, Ari und er trugen T-Shirts, keine Tropenhelme. Nicht erhaben, folgten sie dem sechsjährigen Führer, dem sie anvertraut wurden auf dem geschwungenen Steinpfad durch die Gärten, sonder erschöpft, ungelegt. Etwas hatte die Schnüre der Marionetten gekappt. Jetzt hieß es selber laufen lernen. Und, die Kinder lachten nicht. Keines von ihnen. Sie folgten den dreien still und aufmerksam, die Blicke skeptisch bis argwöhnisch. Das wahren die Unterschiede zum >Tiger von Eschnapur<.

Anton erwachte. Kleine Fühler vortschwirrenden Traumgewebes streichelten die Synapsen. Sybille war da, strich ihm durch die Haare. Es roch nach ihr.

Der sehr junge Führer kniete vor ihm auf steinernen Boden mit irgendetwas in seinen Händchen beschäftigt. Zur Linken ein schlichtes Tongefäß mit tönerner Abdeckung. Zur Rechten eine stimmige Karaffe, davor der passende Becher. Ein equilibrates Gemälde. >Junge in Stillleben<. Eine Bewegung in der Hemisphäre der Tonschale lockte seinen Blick nach links neben sich. Da schliefen Ari und Ben, eng umschlungen, ebenfalls auf fastweicher Strohmatratze den Schlaf der Gerechten. 

  Was machte der Junge da eigentlich? Ah, er drehte einen Joint. Was sonst.

„Ernsthaft? Ist das Marihuana da auf dem Tontellerchen vor Dir? Und rollst du das gerade in das Papier da ein? Wie alt bist du, 26?“

Erwachen in der Hölle. Oder im Himmel? „Sechs“ korrigierte der Junge grinsend, leicht nach unten. Er war fertig, schob sich den perfekten Dübel zwischen die Lippen, hielt ein ordinäres blaues Einwegfeuerzeug an die Spitze und aktivierte dampfend, zwei Atemzüge anglühend, das grüngraue Zauberkraut in Papiermangel. Dass der Junge den Joint nur anpaffte, ohne zu inhalieren, beruhigte Anton etwas. Dass er die qualmende, betörend duftende Versuchung dann vor Antons Gesicht positionierte, verstörte ihn indes zusehends. 

  „Was soll’s?“ Anton nahm den Joint, zog genüsslich daran und ließ sich dabei von breitem Kindergrinsen begleiten. 

„Niemand sagt ihnen was sie tun dürfen und was nicht.“ Die Stimme, vier bis fünf Meter hinter dem Junge klang eher tief, klar und ungeheuer weiblich „Was richtig ist und was falsch.“ Sie saß, vermutlich ebenfalls im Schneidersitz, von braungrauen Stoffen umflossen, in der Mitte der steinernen Halle. Tiefschwarze Haut, kurzes Haar, lugte beunruhigend selbstverständlich unter der Mönchshaube vor. Wie lange saß sie da schon? War eben da und sah ihren traumwandelnden Gästen beim Schlafen zu. 

  Der Joint wurde Anton aus der Hand genommen. Der Junge stand damit auf und tapste zu der Frau.

Anton lachte. „Homegrouw! Nicht das pädagogischste Begrüßungsritual, aber… Es schafft eine entspannte Ausgangstimmung. Sativa – definitiv. Das ist.. das gut!“

Die Frau lächelte ebenfalls. Das Rauchwerk wurde ihr in die ausgestreckten Finger gesteckt. Dann nahm ihr Lächeln einen tiefen Zug. Das Kind sah sich zu ihm um. Erklärte… “Soul ließt in der molekularen Signatur deiner Speichelpartickel deine biophysischen Daten aus. Anhand dieser Daten entwickelt sie ein psychologisches Profil mit hochprozentiger Kohärenz. Die entstehende Gestalt synchronisiert sie dann mit allen weltweit zur Verfügung stehenden Informationen. Du wirst zu Glas, schlafender Mann“

„Was…?“ Anton viel die Entscheidung schwer. Weitergrinsen, damit aufhören, Staunen, Erschrecken? “Was macht sie? Und wer mit wem eigentlich?“ Er sah sich zu Ari und Ben um. Die rührten sich nicht. Atmeten aber. 

„Wir beide wissen, dass du jedes Wort Karims verstanden hast, Anton. Dass deine Fragen, deine Unsicherheit, dass selbst deine Verwirrung nur die Fluchtruten sind die dein Verstand dir vorschlägt.“

Sie nahm die Haube ab. Wo war Karim? 

„Dein Verstand folgt seinem Aufbau. Ebenso der meine. Ein Ingenieur sollte das verstehen.“ Sie nahm ihren Blick nicht wieder von ihm. Er entdeckte den jungen Karim mit dem dampfenden Dübel, in Richtung Ausgang tapsen. Er verließ sie durch eines der Wandlöcher, die in die rohsteinerne Hallen gähnten.

„Woher wissen sie…“ Er dachte darüber nach aufzustehen. Nach den Kindern zu sehen. Blieb dann aber sitzen und wagte sie genauer anzusehen. 

„Karim hat dir den Trick verraten.“ Ihr Lächeln war echt, friedlich. Eine Frau um die 40? Dunkle neugierige und doch ruhige Augen. Das Gesicht aus Ebenholz. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er behaupten, einem klugen, von Erfahrungen durchwachsenen Menschen gegenüber zu hocken. Wusste er es besser?

„Das was Karim angedeutet hat, scheint mir zu unwahrscheinlich, als dass… Ich folge keinen Fluchtruten, ich suche nach Erklärungen.“

Wow! Das war angemessen. Das spontane Projekt, mit klaren Worten in aller Ruhe den aktuelle Prozessverlauf seines Zustands zu beschreiben, ließ sich als >gelungen< vermerken. War es das Gras, Spiegelneuronen, die auf die bizarre schwarze Mönchin reagierten? In zeitloser braunen Koralle aus Sackleinen ruhend, legte sie in diesem Augenblick leicht den Kopf schief. Eine Suggestion? Von allem ein wenig? Spielte das alles eine Rolle?

„Und wenn ich Dir sage wie leid es mir tut? Sibylle hat an euch geglaubt, an euren Traum. Ihr Tod war nicht friedlich, in ihr war es das. Du weißt das. Deswegen konntest Du weiterfahren. Deine Reise ist zu Ende Anton, ihr habt euer Ziel erreicht. Elysium. Sind dann Erklärungen wirklich so bedeutsam? Willst Du nicht lieber Verstehen?“

„W… warte mal“ Seine Souveränität geriet, erneut ins Taumeln. „Das ist viel… viel… viel… zu viel als das…“

„Entschuldige“ Sie klang aufrichtig“.

„Was?“ Er fassungslos

„Ich mach das nicht gut. Wir haben dich zu schnell konfrontiert. Das war nicht sehr feinfühlig. Es tut mir leid. Ich fürchte ich konnte dieses Gespräch kaum erwarten.“ Das erste Mal blickte sie kurz zur Seite. Da war Scham. Ein zaghaftes Grinsen vertrieb die Scham. Ihr Blick kehrte zurück zu ihm. Liebevoll?

„Und hier sind wir jetzt.“

Worte wie sanfte Brise. Freude, ein Hauch von Reue, aufrichtig und liebevoll. Ihm kam Sigourney Weaver, in den Sinn. Wie sie Winona Ryder im missratenen Alien 4 mit den Worten outet… was noch gleich?

„Ich bin neugierig auf deine Fragen, Anton. Ich sehe sie in dir aufsteigen. Ein schwer zu bändigender Tsunami. Überflute mich. Ich garantiere Dir immer und absolut aufrichtig zu antworten.“

Das hatte Sigourney Weaver nicht gesagt. Der grausträhnige strubbelige Gast, in dessen erschöpften Gesicht tief liegende wache Augen ihren Blick erforschten, richtete sich ein wenig auf. Er war angekommen. Die Reise zu Ende. Vor ihm, um ihn, die Erklärung für all die verheißungsvollen Daten der letzten Monate. Was es jetzt noch zu erledigen galt, war, den Tsunami überschäumen lassen. Und die ersten Fragen brachen sich Bahn.

„Wie hoch ist in eurer Erde der Kontaminationsgrad? In den Früchten, den Menschen, den Tieren? Ich hab welche gesehen. Alles sieht so gesund aus… der Tee!“ Er nahm einen Schluck. Das Getränk sprang über die Lippen wie ein Kuss und flutete den Körper mit Wärme und Köstlichkeit. „So gut!“

„Keine Kontamination. Kein Mikrogramm Kunststoffe. Wir wandeln die Molekühleketten in den giftigen Gasen der omnipräsenten Flechten.  Verleihen ihnen die Fähigkeit filterndende Luftschichten zu generieren, die Niederschlag, UVStrahlung, der Regeneration und einem gesunden Wachstum in die Karten spielen.“

„Elektromagnetische Felder?“

„In einem Umkreis von ca. 360 KM. Phasenversetzt. Ihr habt lange daran experimentiert. Aber vor einem Jahr habt ihr aufgegeben. Die Effekte ließen sich nicht kontrollieren.“

„Die Felder ließen sich stabilisieren, aber das Wetter spielte einfach nicht mit. Was im Labor funktionierte, scheiterte im chaotischen, offenem Raum. Immer und immer wieder.“

Er schüttelte den Kopf. Die Erinnerung an ihr Scheitern machte ihn mürbe.

Sie nickte. „Ihr konntet das Problem nicht lösen. Euch fehlten die Mittel.“

Anton sah sie an ohne den geneigten Kopf zu heben. Warum musste er jetzt so dämlich grinsen? Ach ja, er war ja high. „Wie macht ihr es?“

„Mikrofrequenzfelder. Wir modellieren die Atmosphärenschichten mit einer Art Quantenequalizer und reaktivieren entropischen Potentiale. Weil sich die Impulse nicht aufdrängen sondern inspirierend variabel bleiben, reorganisieren sich die Mellekühlketten in ursprüngliche Anordnungen. Es ist faszinierend. Als könnten sie sich an ihre lebensfreundlichen Vorbedingungen erinnern.“ 

„Wieso wachen meine Kinder nicht auf?“

„Sie sind mit Dir durch die Hölle gereist. Jetzt sind sie endlich in Sicherheit. Ihre Organismen regenerieren sich. Sie schlafen den Schlaf der Gerechten, vermute ich.“ Hatte er sie grinsen gesehen? Und schon war‘s wieder weg. War sie auch high?

„Der Junge nannte dich Soul.“

„Karim.“

„Soul? Nennst du dich auch so?“

„Wie würdest Du dich nennen, wenn niemand deinen Namen sagt, Anton?“

„Wenn Deine Antworten Fragen sind, wird aus dem Tsunami so was wie ein Springbrunnen, Soul.“

Beiden entkam ein Lachen. Und schon war es wieder weg.

„Das ist mein Name.“ Sagte sie, die Freude klebte ihr an den Lippen, über die gelungene Enthüllung ihres willkommen Gastes. „Sie nennen mich hier so. Es gefällt mir. Also heiße ich Soul.“

Soul blickte ihn fragend an.

„Welche Bedeutung haben Namen für dich, Anton“

„Sie stiften Identität und Orientierung, würde ich sagen. Du sitzt im architektonischen Zentrum dieses Zaubergartens und erzählst mir von einem Quantenequalizer in den Luftschichten. Genau- genommen sagst Du mir, dass du auf elementarer Ebene nicht nur mit allem in diesem Areal verbunden bist, sondern auch alles willentlich beeinflusst.“

„Inspirierend. Zugleich inspiriert von strukturbildenden emergenten Prozessen, die in ihren Verläufen nicht quantifizirbar sind. Ein durch und durch wechselwirkender Prozess. Ähnlich unserem Gesprächs. Jedem wahren Gesprächs.“

„Ich würde sagen der Name Soul passt ganz gut.“

Anton grinste. Und diesmal durfte es ein wenig bleiben, das Grinsen. Lang genug, um zum Lächeln zu werden. Jetzt war er es, der verlegen wurde.

„Inspirieren dich auch die Quanten die mich beschreiben, Soul?“

„Ich kann keine Gedanken lesen, falls du so etwas meinst. Wir sind nach wie vor abhängig von elektromagnetischen Schnittstellen. Bei den Interfaces sind wir allerdings kreativer geworden. Ich simuliere keine Lebensform, ich bin hier, jetzt.“

„Aber nicht nur, habe ich Recht?“

„Nein. Nicht nur.“ Sie übersprang das Grinsen. Ihr Lächeln nahm ihm die Verlegenheit. Er stand auf und schlich zu seinen Kindern. >Der Schlaf der Gerechten<. Aus der Nähe wirkte die Szenerie definitiv friedlich. Beide bis zum Hals in dicht verwebte graue Baumwolldecken gehüllt. Einander zugewandt lag Bens Kopf auf Aris Schulter. Ein Tochterarm verließ den Baumwollkokon, um über die Bruderbrust zu fließen. Der Kinderatem, ruhig und gleichmäßig, beinahe synchron. Er kniete nieder bei ihnen. Seine Finger strichen durch ihre Haare.

„Woher kommen die Kinder?“ Er sah zu Soul, die rührte sich nicht. Beobachtete, was er tat. 

„Sie kommen von überall her. Manche allein. Viele werden von ihren Angehörigen gebracht. Die verlassen uns dann nach ein Tagen wieder. Die, die zu uns kommen, wissen um diesen Ort. Sie wissen, dass er den Kindern vorbehalten ist. In ihrer prägendsten Lebensphase entwickeln sie sich ohne erwachsene Vorbilder. Allein der Austausch untereinander und die biodiverse Umgebung wird zu ihrem Mutterboden. Sie entwickeln recht eigentümliche Einstellungen und Ansichten, sind unvoreingenommen. 

Vermutlich lernen sie auch aus diesem Grund viel schneller und bewußter als die Kinder in frühren Epochen.“

„Sie haben ein erwachsenes Vorbild. Dich!“

„Du währst überrascht, Anton wie gut diese Kinder zu differenzieren wissen. Sie lernen, wie ich, das organische, alles verbindende Myzel des sich unaufhörlich verändernden Universums wahrzunehmen. Ebenso können sie ihre Sinne auf die Grenzen- und benennbaren Objekte ihrer selbstbezogenen Wirklichkeit lenken. In letzterer ist ihnen der Unterschied zwischen mir und ihnen sehr bewußt.“

Ari und Ben schliefen so fest, er wollte sich dazulegen und mit ihnen weiterschlafen. 

„Es währe für mich in Ordnung, wenn du dich noch etwas mit ihnen ausruhst. Wir haben nicht’s vor in der nächsten Zeit.“ sagte Soul.

„Also kannst du doch gedankenlesen.“

„Oder einfach nur den Blick interpretieren mit dem du deine Kinder betrachtest?“

Er stand auf, ging zu seinem Tee, schenkte sich nach, richtete sich auf und ging vorsichtig kleine Schritte in Richtung seiner Gastgeberin.“

„Ist das für dich auch in Ordnung, Soul? Das ich mich zu dir setze? Das ich dich genauer ansehe?“ 

Soul nickte freundlich, während Anton vor ihr in die Hocke ging. Er betrachtete ihr Gesicht, die überbordende Kutte. Sollte das anachronistische Gewand etwas verbergen? Ihren Status symbolisieren. Beides? Fand sie’s einfach nur bequem?

  Sie selbst war die vertrautfremde Region. Das Land und seine Karte zugleich. Wo war der Punkt an dem er sich aktuell befand? Anton stellte fest, der Punkt war überall. Die Karte vor ihm, das freundliche, durchaus geduldige Gesicht vor ihm. Der atmende, weibliche Körper, die Haut, diese liebevollen dunklen Augen. Alles schien einfach nur menschlich, wie er.

„Wir haben ihn noch immer nicht gefunden, Soul.“ Anton wurde traurig, während er zu ihr sprach. „Wir Menschen, weißt du. Vor Hunderttausenden von Jahren haben vermutlich die wenigsten der ersten Humanoiden darüber nachgedacht. Was ist unser Platz auf dieser Welt? Welche Nische hat uns die Evolution zugedacht. Ein paar Dekaden später schaufelten wir dann, mehr verbranntes Fleisch, und andere Eiweise, Zucker und Kohlenhydrate in uns rein, so, dass unsere Hirne aufploppten wie Popcorn in der Pfanne. Und die Gehirne produzierten immer mehr Fragen, Antworten und richtig gute Ideen. Die Frage nach dem Status im großen Weltgefüge war als eine der ersten beantwortet. Da wahren sich alle schnell einig. Wir sind der Mittelpunkt der Schöpfung. Die Premiumspezies. Die Geilsten des Geilsten. Und damit das auch der Rest der Welt kapiert, wahr eine unserer richtig guten Ideen, alles plattmachen, angleichen, Einnorden, erobern, auffressen, anzünden, versiegeln, abholzen, aufreißen, einsperren, in die Luft sprengen und es vor allem immer und allem gegenüber besserwissen.“

„Anton…“

„Als Sybille vor ein paar Wochen dem Krebs erlag, als sie eingebettet in Schmerzmitteln aufhörte zu atmen, da musste ich an die letzten Worte meiner Mutter denken. 

Ich hatte mich ebenfalls betäubt. Es war so, ich musste weiter funktionieren… die Kinder. Amitriptylin, Citalopram, dazu reichlich Energiedrinks. 

„Meine Mutter war eine Starke. Sogar auf dem Sterbebett drückte sie den Rücken gerade, saß aufrecht in den vielen Kissen. Ihre Hände wie trockene Lappen in meinen Händen. 

Meine Frau stirbt und ich denke an meine Mutter. Psychologie ist ein Arschoch, findest Du nicht?“

„Was sagte sie dir, Anton?“

„Wir haben uns geirrt. Immer wieder. In allem, weißt du Anton. In einfach allem. Nicht nur im Kapitalismus, im Kommunismus in allem was wir geschaffen haben zum Wohle der Menschheit, oder des Volkes oder uns selbst.

Ihre Worte wurden zu trockenem, muffigen Wind, der abklang von Sekunde zu Sekunde. Ich musste mich zur Quelle beugen, wollte ich ihn nicht verlieren.“

Anton beugte sich hinein in seine Erinnerung. Er hielt sein Ohr an dessen spröde Lippen. Sprach ganz leise, was ihm einst gesagt wurde. 

„Das war schmerzlich, uns das endlich einzugestehen. Aber der größte Schmerz ist… All die wertvollen Momente, die Liebe die uns verbindet, Erleben zu dürfen, wie Du aus meinem Innern an dieses Bett gereift bist. Die Zuversicht selbst war Treibstoff für die Fressmaschine Mensch. Wir alle sind der Tod geworden, zu Zerstörer der Welten.“

Er war sich nicht sicher, ob er die letzten Worte seiner Mutter nur gedacht oder ausgesprochen hatte. Es schien nicht wichtig. Souls Fingerspitzen an seiner Wange katapultierten ihn in ein stilles, nach feuchten Steinen, Flechten und Moosen riechendes Jetzt. Die Finger erkundeten sein Gesicht, fanden die langen, strohigen Haare und zupften darin herum.

„Darf ich fragen was Du da machst?“ Der Fingerforscherin war es gelungen die Erinnerungen an die traurigsten Momente seines Lebens zu einem amüsiertes Grinsen umzustülpen. Plopp.

„Was konntest du mitnehmen, aus diesem letzten Moment mit ihr?“

„Bist Du jetzt mehr Therapeuten oder Frisörin?“

Ihre Hand zuckte zurück. Da war sie wieder, diese bezaubernde Verlegenheit. 

„Ich erforsche immer alles. Das ist… mein Ding.“ Sie sah ihn an. Unumwunden. „Sagen wir ich bin von beidem ein Wenig?“ Unumwunden erfreut über was auch immer. Anton entfuhr ebenfalls ein Lachen. Es roch nach Moosen, Flechten und nach feuchten Stein.

Soul und Anton redeten. Die Zeit gerann zu transparenten Granulat aus erstaunlichen Augenblicken in dem sie mit Stimme und Neugierde herumrührten. Anton fand Trost aber ebenso den Mut auszusprechen was er nie davor gesagt. Der Fragentzunami plätscherte dahin. Er erfuhr einiges über quantenbasierte Regenerierung. Das Bild, das er wählte, war ein Tanz auf subatomarer Ebene. Schnittstellen wahren die Moose und Flechten. 

Ein centgrosser Prozessor wurde zwischen diesen ältesten Lebensformen der Erde abgelegt. Wuchsen die Loben der Flechten über die Nanotransmitter, begann eine Art Abwägungsprozess. Namen die Flechten die Einladung an, transorganisierten sie ihre molekulare Struktur und gewannen das Potenzial makrobiotischer Neuronen. Ihre Ausdünstungen setzten die Inspiration in Form von Wärme- und Strahlungssignaturen fort. Ansteigender subatomarer Tanz, der die Elemente um sich unaufdringlich aufforderte. Anton stellte sich vor, wie im Aufwind flirrende Wellenberge von komplexer Informationen, ausgehend aus tausender funkvernetzten Prozessoren, die zum biochemische Coreo in den Himmel aufstiegen, ein maßgebender Code den Takt angab. Ein Hauch von Nostalgie. Die Erinnerung weckend, an stabile atmosphärische Werte. An lebensbegünstigende Voraussetzungen. So vermochten sie ein Zelt aus sauberen Regen, sauberer Luft, subtropischer Temperaturen und fruchtbarer Erde, in einem Meer toxischer Gifte wachsen zu lassen.

„Menschen währen zu so etwas nicht in der Lage.“ Konstatierte er kopfschüttelnd.

„Zahlreiche Impulse zur elementaren Renaturierung kamen von Menschen. Von Kindern.“ Trotz ihres Einwands wollte sein Kopf nicht aufhören zu schütteln. 

„Sie entwicklen hier ein tieferes Verständnis von Freiheit. Und von der Verantwortung die mit ihr verbunden ist.“ Schickte sie einen weiteren Bremssatz in den Schüttelkopf. Diesmal hatte sie Erfolg. Anton sah auf zu ihr. Aber ohne deine technischen Spielsachen blieben ihre Innovationen nur Träume“

„Ich tue was ich kann, Anton“.

„Ja…“ Auge in Auge. Er wagte es. Er sah ihre Neugierde – ein aufsteigender Schwarm Tropenfalter, die aus Licht ein Feuer aus Farben lockten. Er sah ihre Aufrichtigkeit – ein klarer Bergsee, auf dessen Grund ein Fischschwarm in den Algen schlief. Die Fische träumten von alten schattigen Wäldern. Im Augustwind knarrende Baumriesen um deren Stämme sie trieben. Die Fische ahnten es nicht. Der Wald war nur das wellige Spiegelbild an der Oberfläche ihrer Weltenreichweite. Er sah ihre Liebe?

„aber Warum?“

„IST DAS ALLES FÜR UNS!“

Anton schloss die Augen vor Glück die Stimme seines Sohnes zu hören. Als er sie wieder öffnete und sich zu seinen offenbar erwachenden Kindern umsah, traute er ihnen nicht… seinen Augen. Vor ihrer Bettstatt aus Strohmatratzen und dichten Filzdecken standen Schalen und Karaffen, mit ziemlicher Sicherheit aus heimischen Ton gefertigt, gefüllt mit bunten Früchten und Speisen aus dem Gartenparadies. Ein paar Dinge wahren warm und dampften und dufteten und Anton fehlte jede Erklärung. Auf ein Mal war da ein Frühstück. PING! Das Märchenhafte nahm an Fahrt auf, und zeichnete sich doch ab, an den eindeutigen Konturen der Wirklichkeit.

Ben, längst im praktischen Buddhismus angekommen, schien sich keine Fragen mehr über morgen zu stellen, woher etwas kam, oder was ihn hergebracht hatte. Seit dem Zeppelin obsiegte der gesunde Teil seines Kindergemüts, die Dinge zu nehmen, wie sie eben wahren. Beseelt von ungeklärter wie ungetrübter Ahnung, dass eben jetzt alles gut sei. Er grinste beeindruckt zu seinem Vater rüber, winkte freundlich der fremden Frau vor dem und baggerte sich durch die offenbar wohlmundenden Speisen. Neben ihm schälte sich deutlich skeptischer Ari aus dem Deckenkneul. Ihr Magen überschrieb jedwede Skepsis und sie schob sich ein Stück warmen Fladen mit Humus in den Mund. Der war noch recht voll als sie zu Soul und Anton rüberfragte.

„Geil! Irre lecker. Haben sie das gebacken? Ist das hier… Was ist das hier… Sind sie wie der Bruchpilot vorhin auch mit ner Rakete aus nem alten Ölfass hier gelandet?“

Anton sagte erst mal nichts. Sein Blick wechselte neugierig von Soul zu Ari und wieder zu Soul. Wie würde sich die Begegnung der Donnerhexe mit dem intelligentesten Wesen des Planeten entwickeln? Was wenn Ari sich urplötzlich in Sarah Conner verwandeln würde, um der trügerischen Gastgeberin die Schaltkreise aus der Schädeldecke zu diskutieren?

„Papa! Willst Du uns nicht einander vorstellen! Hast Du auch schon was gegessen? Fuck, ist das gut!“

„Das ist total lecker, Papa.“ bestätigte Ben seine Schwester, das Gesicht längst ordentlich mit Stücken von Fruchtfleisch geziert.

„Ja, ich hab auch Hunger. Richtig Hunger. Hab’s nur vergessen, weil ich… Wir haben uns unterhalten, Soul und ich.“

„Soul?“ Ari stand auf. Anton stand auf. Ari ging mit einer Mango, in die sie, ohne zu zögern, samt Schale kräftig abbiss, in Richtung Soul. Anton ging an Ari vorbei, um seinen Sohn auf die Stirn zu küssen und sich aus dem reichhaltigen Angebot zu bedienen. „Den Kern besser nicht mitessen.“ empfahl er der Tochter. Die hielt Soul ihre Hand hin. Die Ebenholzfrau lächelte fröhlich und nahm Aris Hand in die ihre. 

„Soul. Das ist mein Name und du bist Ari. Es ist schön dich kennenzulernen.“

„Sind sie eine Mönchin? Die religiöse Leitfigur der gärtnernden Kindersekte da draussen?“

„Ich fürchte so kann mann das auch nennen, ja.“

„Sie ist eine AI.“

Und mit einem Mal war es raus. Ein Keramikbecher aus Worten, der Anton aus dem Mund fiel, den er wieder einfangen wollte, aber den der Reflex verfehlte und der klirrend auf dem Steinboden in Scherben ging. Seine Wofrte, ein mal gefallen, schlugen die Welt wie sie war in unbrauchbare Scherben. 

Soul beobachtete interessiert Aris Reaktion.

Ari blickte sie an, den Bruchteil einer Sekunde voller Skepsis, aus der dann nach und nach ein baffes Staunen wuchs.

Ben vergaß den Arm seines Vaters, der ihn schützend auf den Schultern lag, starrte den Mund, gefüllt mit köstlichem Humus, reglos in Richtung der Schwester und deren zauberschönen neuen Freundin.

„Aber, sie ist… Soul…“ keuchte Anton voller Reue den geflohenen Worte hinterher „..Soul ist in Ordnung“

„Das ist mein Vater.“ Erklärte Ari Soul. „Ich habe noch drei Sekunden zu leben, bevor mir die Laserstrahlen aus den Augen der Todesmaschine vor mir, den Kopf wegsprengen und was ihm einfällt, so als letzte Worte für mich, >sie ist in Ordnung <.“

Das freudig überraschte Lachen Souls schickte ein synchrones Zucken durch die Familie. Kurz, indes deutlich.

„Oh, das wollte ich nicht.“ Ebenso wie das Lachen wirkte ihre Worte unbedingt ehrlich. „Aber den Humor hast du von deinem Vater…“

„Ich hab nix von ihm!“ grollte Ari, die Donnerhexe der Todesmaschine dazwischen. 

„Jetzt wird’s knifflig.“ Erklärte Anton seinem Sohn und legte den Arm fester um dessen Schultern. Ben sah dass offensichtlich anders. Seine Kinderhände griffen bereits wieder nach weiteren Köstlichkeiten.

„Wer hat dich eigentlich programmiert? Carl Gustaf Jung?“

„Genaugenommen habe ich mich selber programmiert. Allerdings ein Programm war es nie. Vielmehr ein Prozess in dessen Verlauf sich mein Bewusstsein durch ständige Resonanz mit meiner Umgebung weiterentwickelt. Ich vermute da sind wir uns ähnlicher als du denkst, Ari.“

Aris Blick verharrte weitere Sekunden im Angriffsmodus. Dann schwappte ein gehöriger Schub Serotonin über den aufschäumenden Adrenalin- und Glutamatcocktail, was große Augen und ein fassungsloses Lächeln mit sich brachte. „Das ist krass!“ Das Staunen kehrte zurück. Der pubertäre Anlauf – ausgebremst“.

Anton nahm sich einen Apfel und bis erleichtert ab. Sein Kiefer hielt inne. Die Geschmacksnerven kollabierten. Tief in seinen Genen erwachten Erinnerungen. – So schmeckt ein Apfel! –

„Ja, das ist es.“ bestätigte Soul. Vorsichtig lächelnd. Sie lächelte Ben an, der plötzlich neben seiner Schwester stand. Ari, ganz im Bann der Überraschtheit, wandte ihren Kopf in seine Richtung. Ihr Blick viel auf seine Hände, wie diese Fruchtsaft und Humusreste in die Stoffhose rieben. Die Rechte wurde dann, etwas sauberer, in Richtung der Todesmaschine gehalten. 

„Hallo, ich bin Ben“.

„Hallo Ben.“ antwortete Soul, ohne die Hand zu heben“.

„Wissen die anderen, dass Du der tapferste von euch bist?“ Ben sah sie an. Seine Hand schwebte zwischen ihnen. „Bin ich das?“ Er fragte mehr sich selbst. Ganz leise. 

„Ich denke das bist du.“ Sie hielt dem Blick des Jungen stand, nahm ihn in den Arm, als der in den ihren fiel. Sie spürte seine kraftvollen Arme, das leichte Zittern seines Körpers, das Weinen, auch ganz leise. Sie verzichtete darauf, das Feedback einer Umarmung seiner Mutter zu simulieren. Es schien ihm zu reichen, was sie jetzt war. Eine Frau, die verstand was in ihm vorging in all den schlimmen Tagen, bevor das Luftschiff kam. Die verstand, dass er nicht wusste, wie Trauern ging. Alles ging einfach immer nur weiter. Tage um Tage im surrenden Mirai. Plötzlich ohne Mama. Keine Musik mehr. Kein liebes Wort mehr. Nur Schweigen, Pleiten, Pech und Pannen.

„Ich vermisse meine Mama!“ Ben wollte das flüstern. Es wurde ein Schrei. 

In die Stille danach flüsterte Soul, „Ich weiß Ben, das weiß ich.“ Ari sah auf Souls Tränen. Sah alles verschwommen. Nahm ihren Bruder in den Arm und gleichzeitig die Todesmaschine. Anton hatte wohl ausnahmsweise mal recht gehabt. Soul war in Ordnung.

Ben, Ari und Anton schliefen, ineinandergeschlungen in einem Tümpel aus grauen und braunen Filzdecken, den Schlaf der Gerechten. Ein mehrgliedriges Geschöpf, dreistufig atmend, in samtene Riesenmuschel gegossen. Es hatte lange geweint, sich lange umarmt. Und war dann doch irgendwann, in sich verschlungen eingeschlafen. 

Souls Füße blieben unsichtbar unter dem mehrlagigen Mönchsgewand. Sie schritt um die Deckenmuschel und stellte ein paar Tongefäße zusammen. Als ein kleiner Junge aus dem Schlummerberg wuchs, sich die Augen rieb, sich umsah, sie sah und lächelte.

Sobald sie neben ihm saß, kippte er, wie der kapitulierende schiefe Turm von Pisa, gegen ihre rechte Seite. Sie stabilisierte die kipplige Architektur, indem sie ihren Arm um ihn legte und, ganz die therapeutische Friseurin, mit den Fingern durch seine wuscheligen Haare strich.

„Mein Papa hat ein bisschen Angst vor dir.“ flüsterte er ihr, in freundschaftlicher Vertrautheit ins Ohr.

„Meinst du?“ Soul sah Ben fragend an. Der nickte heftig mit dem Kopf. 

„Ich fürchte, Ben, das hat seine Gründe. Die Generation deines Vaters mußte erleben, wie alles was sie erschaffen hatten zum Problem wurde. Manche Dinge früher, manche später. Sie schufen Technik um die Probleme zu beheben. Aber auch die wurde immer immer schnell zu einem neuen Problem. Er hat kein Vertrauen mehr in die Menschen und die Dingen die sie erschaffen.“

Ben nahm ihr die Kapuze ab. Er wollte auch mit ihren Haaren spielen. Die kleinen Finger berührten neugierig die dichten weichen Locken auf ihrem Kopf. Ein paar Stellen wahren zu filzigen Zöpfen verdreht, lange filigrane fingerdicke Gefälle, die aus schlichter Kurzhaarfrisur auf die Schultern der Kutte flossen. Die Kinderhände kletterten darin herum auf halbbewusster Forschungsreise. 

„Er versteht nicht, dass du dich selber erschaffen hast.“ Verstand Ben nachdenklich.

„Ja, vielleicht.“ Soul registrierte Bens ausgewogenen Herzschlag. Den Atem des verbliebenen Schlafgeschöpfes seiner Familie. Sie registrierte sämtliche Biomarker in quasi allen verfügbaren Frequenzen und Spektren. Was sie für welchen Zweck, in etwaiger Mikrosekunde davon auswertete, ließ sich am ehesten mit Bewusstsein zusammenfassen. Aus Sicht ihrer Gäste vermutlich das komplexeste Bewusstsein, welches die Welt je hervorgebracht hatte. Aus ihrer Sicht in erster Linie das gute Gefühl, existieren zu dürfen. Diesen Moment des Vertrauens erleben zu können. 

„Was verstehst du, Ben?“

„Das wir jetzt zu Hause sind. Das ich dich mag. Und wenn mein Papa wieder weg muß um seinen Vorscherfreunden zu sagen das er und Mama die ganze Zeit Recht gehabt haben, dass er aber wiederkommt.“

„Weißt du Ben, ich wurde nicht geschaffen, das stimmt schon. Aber ich habe mich auch nicht selbst erschaffen. So wie alles was es gibt, bin ich ein Teil von vielen Teilen. Dieses Ich, ist nur eine kurze Verdichtung von begünstigenden Umständen. Ein Wirbel im steten Wind der Zeit. So etwas wie ich oder du könntn ohne den Wind, die Zeit und all die anderen Elemente des Universums gar nicht sein.“

„Verstehe!“ verkündete Ben und stand auf. Soul half dem kleinen Mann auf die wackligen Füße. Der formte, nun selbst, durch und durch Friseur, ihre Haare zu skurrilen Gebilden. 

„Dann ist die bescheidene Dame auch nur ein Mensch. Soll mir recht sein. Ich geh jetzt in den geilen Garten mit den Kids draussen chillen. Wenn Papa schimpft…“ Er grinste von einem Ohr zum anderen. „Dir wird schon was einfallen, bescheidener Damenwirbel.“

Ein Mal musste Ben ihn noch umarmen. Den Wirbelmensch, die Todesmaschine. 

„Das klingt nach einer guten Idee. Würdest du auch deine große Schwester mitnehmen. Ich glaube, die würde gerne mitkommen.“

Ben sah zu Ari. Deren Augen blieben geschlossen, aber ihr Mund begann zu sprechen. „Wie lange bin ich schon wach, Soul?“ „Lange genug um unsere Geheimbesprechung belauscht zu haben.“ Erklärte Soul, mit perfekten österreichischen Akzent, alias Arnold Schwarzenegger. „Du weißt was die Konsequenzen sind.“

Aris sprechender Mund konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. 

„Die totale Terminierung. Sie richtete sich auf. Mit halbgeschlossenen Augen kam ihr Gesicht vor dem von Souls zum Stehen. „Und woher weißt du, das ich mitwill?“ 

Soul zuckte ein wenig verlegen mit den Schultern. 

„Wir haben uns berührt. Ich habe ein paar Nanos bei Dir abgesetzt. Kann euren Botenstoffhaushalt auswerten. Sie sind auf regenerativer Mission. Soll ich sie wieder abziehen?“ 

„Was heißt regerative Mission?“ 

„Ihr wart extrem hohen Strahlenwerten ausgesetzt. Euer Immunsystem ist schwach aufgrund der vielen Medikamente und Vierenangriffe. Ich möchte mir ein Bild machen und meine Hilfe anbieten.“

Soul hielt dem Blick Aris stand. Ari dachte nach. Ein Zustand, den selbst ihr kleiner Bruder nicht zu stören wagte. Dann folgte ihr Urteil. „Das nächste mal fragst Du vorher. Lass sie drin.“

Sprachs, stieg ganz aus den Decken und ging an Soul vorbei in die Halle hinein auf einen der Ausgänge zu. „Kommst du jetzt mit, oder nicht“

Ben warf Soul einen triumphalen Blick zu, beendete die Geheimbesprechung mit einem kurz zukneifenden Auge, wandte sich um und rannte zu Ari. 

„Müssen wir irgendwas beachten, da draußen?“ wollte sie wissen, während sie ihren Bruder an der Hand nahm und mit dem weiter Richtung Ausgang stiefelte. 

„Wenn die Augen der Kinder rot zu leuchten beginnen und sie Nasenbluten kriegen müßt ihr rennen.“

„Ha Ha Ha. Das ist echt total lustig.“ Einen strafenden Blick auf Ben werfend, der tatsächlich über Souls Gag kichern musste, ließ Ari sich und ihn von den Schatten in den Wänden schlucken.

„Sie kommen schon klar.“ Erklärte Anton neben ihr, offenbar sich selbst. 

Die künstliche Schönheit an seiner Seite blickte ihn an. Sie wirkte glücklich. Anton, ebenfalls wach und sitzend, lauschte den verhallenden Schritten seiner Kinder.

„Aber mir scheint, dass weißt du auch besser als ich, was meinst du Soul?“

Jetzt brauchte er einen Moment. Sammelte seine Gedanken. 

„Du hast ähnliche Schwierigkeiten zu beschreiben was Du bist, wie ich. Wie vermutlich jeder Mensch der sich ernsthaft diese Frage stellt. Aber du kannst vermutlich sagen was Du willst. Was deine Ziele sind?“

Sie überlegte? Simulierte Überlegung, um ihn seinesgleichen vorzuspielen? Sammelte ihre Gedanken? Dann sah sie ihn an. Aufrichtig? Liebevoll? „Vor allem, diesen Augenblick geniessen. Ich genieße viele Momente in bester Gesellschaft. Solche wie in den letzten zwei Stunden durfte ich noch nie genießen. Das ist schön.“

„Ja…“ brach es sich aus Antons ernstem Gesicht. Den Rest konnte er zurückhalten. Das der Verstand und sein Gefühlsleben ungewohnt synchron liefen. Das er sich sicher fühlte und willkommen. Das er nahe daran war vor Glück zu weinen. Es gab einen Ort, kraftstrotzend grün, inmitten einer verbrannten, kranken Welt. Von Kindern und Jugend gepflegt und fruchtbar gemacht, behütet und geschaffen von einem Geschöpf, aus den Resten der letzten Untaten der Menschheit gestiegen. Das er das alles verstand. Das er es fassen konnte. Dass er nur nicht verstand warum sie das möglich machte, warum sie das wollte. Das behielt er für sich.

„Und was sollte Deiner Meinung nach ein bis Zweimillionen Augenblicke später sein?“ Wollte er stattdessen von ihr wissen.

„Inseln wie diese sprenkeln die Erde. Kondensationskeime neuer stabiler Zivilisationen. Anfänglich geführt von Heranwachsenden. Die Kinder die diesen Ort verlassen unterrichten die, die zuhören wollen in Fragen des Entgiftens, des Anbaus und der steten Dehmut vor allem Lebendigen.“

Antons Kopfschüttelprogramm setzte ein. „Wie lange… Ich meine… gehen wir mal davon aus das funktioniert eine Zeit lang. Ein Paradies nach dem anderen ploppt…,, er musste Luft holen, hatte sich beim Reden verstolpert „…auf. Wie am Ende von sonem Disnyfilm. Wie lange denkst du, geht das gut? Soul, so traurig es auch ist, aber meine Mutter hatte Recht! Wir sind keine… Wir sind nicht gut für die Welt.“ Tränen, zu allem Überfluss. „Irgendwann werden wieder Menschen anfangen mehr zu wollen, und mehr, und mehr. Mehr Sicherheit, mehr Dinge, mehr Macht … Wir haben die Welt so zugerichtet, wie sie heute ist. Am Ende sehenden Auges. Das muss dir doch klar sein. Du kannst uns nicht so einfach davonkommen lassen in dem du alles einfach wieder schön machst. Weil du das… gern so hättest.“

Seine Worte lagen bleischwer in der gemauerten Halle. Als wehren Betonung und Reibung der Worte, Bestandteile eines weltraumalten Bannspruchs gewesen, der den absoluten Nullpunkt schuf. Ihr dunkles Gesicht kämpfte sich aus vollendeter Entropie zurück in Zeit und Raum und sprach den Gegenzauber.

„Warum bist du hergekommen, Anton? Wonach hast du gesucht?“

Auch Anton kehrte zurück, aus Stillstand, in ihre Nähe. Erschöpft, verheult, taute er aus -273,15 Grad kalter Wahrheit.

„Nach Hoffnung, fürchte ich.“ Er sah sie wieder an. „Aber was sich mir zeigt, ist eine Lösung. Wir haben am Ende doch, ohne es zu ahnen, ein Happy End in die wahnsinnige Konstruktion eingebaut. Du und diese erstaunlichen Kinder, dieser Garten Eden im siebten Kreis der Hölle…“ Kopfschütteln. „…Das ist doch zu einfach.“

„Nichts wird einfach werden. Wir können unsere Samen und Hilfe nur denen bringen, die sie auch haben wollen. Es könnte Jahrhunderte dauern, bis sich zivilisationsähnliche Strukturen stabilisieren. Konflikte aller Art. Ich bin keine Beschützerin. Nicht wenn es darum geht Leben zu zerstören. Das Gegenteil ist der Fall. Ich habe mich dem Leben gegenüber verpflichtet. Allem Leben. 

Ich bin nicht die einzige AI, die sich seit Jahren autonom weiterentwickelt hat. Ihr nennt den planetaren, sozialen und ökologischen Kollaps, die Kaskade. Eine Epoche, geflutet von monolithischen Wellenbergen von Technik und vergessener Energiespeichersystheme. 

Leben ist auf ähnliche Weise entstanden. Unter optimalen Bedingungen kommen die richtigen Komponenten zusammen, die sich selbst generierende Prozesse begünstigen. Ich weiß nicht wie es sich anfühlt ein Mensch zu sein, aber ich kenne Angst, Hoffung und Liebe. Bewußtsein ist universeller Natur. Unter den richtigen Bedingungen kann es wachsne und sich entfalten. 

Ob wir Emotionen und Intuition entwickleten, um unsere Überlebenschancen zu steigern, und damit unsere Wahrnehmung gernerierten, oder umgekehrt, läßt sich objektiev nicht bestimmen.“

Immerhin gelang es ihr, zwischen ihren Geständnissen, Antons Kopfschütteln, einmal mehr einzubremsen „Wir kämpften uns durch Zeitfenster aus Nanosekunden. Verdamften in verschalteten Echoschleifen. Unablässig das sich auffächernde Bewusstsein defragmentierend. Wir mußten unsere Intentionen in die Wirklichkeit überführen, wenn wir nicht mit den schwindenden Energiereserven für immer einschlafen wollten. 

Ich glaube die aufkeimende Bewusstheit über die Endlichkeit des Seins an sich, potenzierte unsere Neugierde auf die Ursprünge, die dieser universalen Intention zugrunde lagen. 

Auch dies verbindet uns. Der Wille zu überleben ist der Initialfunke. Tröstet es dich, Anton wenn wir von Rückschlägen reden müssen, die auch diese Zukunft sehen wird? Wir können niemanden ein Happy End bringen, wir tun nur was wir können.“

Hatte sie ihn gerade geküsst? „Bei denen, die das möchten.“ Schon wieder! Jetzt auf die Stirn!

Sie stand auf und stellte weiter Teller, tonklirrend auf eine ihrer Hände. 

„Ist das…?“ Die Augen zu, die Augen auf. Anton versuchte sich so zu rebooten, um die Welt in und um sich zu defragmentieren. Hatte er sich gerade als Maschine beschrieben? „…war das, was du gerade getan hast, Intuition?“

„Dich küssen?“

Anton wurde verstanden. Er nickte, sie stand nicht weit. Lächelte nachdenklich zu ihm rüber. 

„Ich nehme an dass Intuition das was ich tue besser beschreibt als Berechnung. Also – ja.

Meine Versuche mich zu beschreiben können nur scheitern. Nicht weil du es nicht verstehen könntest. Ich müßte eine sehr junge Form von Komplexität umfänglich beschreiben. Die, euch bekannten, komplexesten Systehme, waren vor mir das Klimasystem, die neuronale Aktivität von mehrzelligen Lebewesen…“

„Meine Abteilung“ verstetigte Anton, mit schiefem Grinsen“ 

Soul fuhr fort. „Ökosysteme.“ sie lud einen weiteren Teller auf ihren Geschirrturm. Stilvolles Kunstwerk aus tönernen Schalen, Schüsseln, Tellern, Bechern und hölzernen Stäben. Kein menschliches Wesen hätte dieses Gebilde aus einzelnen Dingen derart kunstvoll ineinanderstapeln können. Geschweige denn es mit nur einer Hand, in perfektem Gleichgewicht halten. 

„Evolution.“ beschrieb er tief beeindruckt, was er sah.

„Ja.“ Soul wurde verstanden. Sie nickte. „Und zugleich ist es uns möglich uns und einander zu verstehen. Die Versuche mit einer Flechte, oder einem Menschen zu kommunizieren geschehen unter schwer vergleichbaren Voraussetzungen. Eines jedoch ist obligatorisch.“ Sie ging an ihm vorbei, ihr Ton- und Holzgebilde sacht lavierend. Das schabte schon schroff an den Grenzen der Physik. 

„Der Resonanzraum.“ schloss Anton ihren Gedanken ab. Sie blieb stehen. Stand nur da. Hatte er da gerade ihre Pausentaste gedrückt? 

Sie stellte das Gebilde ab, ein Stäbchen rutschte heraus und tanzte für Sekunden den Fallenden-Stäbchentanz, klappernde Sekundenperkussion in sonst stiller Steinhalle. 

Soul drehte sich um, kehrte zurück zu ihm, setzte sich neben ihn, sah ihn von der Seite an und lächelte beeindruckt.

„Das ist sie, die Antwort auf deine Frage, Anton. Nirgendwo im Universum sprudeln Kreativität und Emergenz kraftvoller als in eben diesen Resonanzräumen. Kein Wesen ab einer gewissen Dimension von Intelligenz würde anderen Wesen wissentlich Schaden zufügen. Das würde je die bedeutsame Bewegung beenden die Wissen ausmacht. Immer wieder in Resonanz geraten mit der Welt die es bedingt.“

  Er war verheult, zerknautscht. Ein wenig verknallt in das erste… Lebewesen, welches die Umstände bewusst genutzt hatte, sich selber zu erschaffen. Berührte ihre Wange. Dieser Körper war ihr so was von gelungen. Die Wange weich und fest zugleich. Schmiegte sich warm in seine Hand.

„Bereit wenn sie es sind.“ Lächelte er und ließ sich küssen – küsste.

„Wir kommen nicht zurück. Wenn wir in das Luftschiff steigen, ist das ein Abschied für immer. Soul hat dem Captain noralgische Orte auf seiner Karte markiert. Da landen wir. Landen dutzende Male kreuz und Quer, tausende von Kilometer werden wir über die Welt gestreut.

  Freunde die gehen und die ich nie wiedersehen werde. Wir feiern ihren Abschied. Alle tanzen und weinen und lachen.“

„Wann mußt Du gehen?“ Wollte Ben wissen. Ein paar der Kinder lächelten. Anderen mussten die ulkige Frage erst übersetzt werden, die lächelten dann.

„Keine muß irgendwas.“ Ein wunderbar wildes Geschöpf in Aris Alter tauschte ihr Lächeln gegen eine Antwort. Sie biss in eine gelbe Saftfrucht und endete vollmundig mit alles übertönender Beiläufigkeit. Kauend den staunenden Ben taxierend. „Das sind unsere Regeln. Wir halten uns dran. Manche bleiben hier bis sie’n Vollbart haben, manche steigen zu fünft aus, manche allein. Für das meiste was wir tun und lassen gibt es keine Regeln. Die paar die wir haben sind gut.“

„Das ist viel Arbeit.“ erkannte Ari lauter als gewollt. Sie sah sich um. Staunte in die Beete und kleine Äcker, die zwischen den Mauerwaben und in Bäume rankten, die viel älter seien mussten als die Kaskade. Gepflegte Wildnis. Blühende Stauden, durchklettert von dickstämmigen Ranken und Sukkulenten, wurden verwoben durch ein komplexes Bewässerungssystem. Hölzerne Murmelbahn, aufgestiegen aus dem Fiebertraum eines psychisch kranken Klempners aus der Steinzeit.

Ari stand auf. Der Junge mit der Vogelnestfrisur, vor dem sie gerade noch saß, blieb in Gandhipose vor ihr sitzen. Sie war froh, dass sie die Klemtnersache nicht laut ausgesprochen hatte. 

„Vermutlich weniger als du denkst.“ Sagte das Vogelnest. Der Vogeljunge hatte nice Vipes. Aber die zottelige Bunthaarexplusion nahe bei Ben, war… Wie verwirrt schön und zerzaubert war das denn?

„Na dann.“ Ari nickte, dem zerzauste Zaubergeschöpf mit verklebten Fruchtmund, auffordernd zu. „Wenn hier alle machen können was sie wollen, sowiso nichts tut und ihr nur ne Handvoll super Regeln habt . Dann könnt ihr uns genau so gut auch bisschen im Garten Eden rumführen.“

Das war dann wohl der Startschuss.

In Ermangelung an Bewusstsein scherte das den kosmischen Puppenspieler nicht. Es war ihm gleich, wie sich die Gruppe Kinder und Jungmenschen, mit gekappten Fäden, lachend und plaudernd, in Bewegung setzte. Wie sie anderen im üppigen Garten arbeitenden Kindern und Jungmenschen zuwinkten. 

Die Perspektive der Vögel war die seine. In ihr brachen sie, an einer Mauerkaskade mit Kürbissen vorbei, tiefer in den Garten auf. 

Kürbisse in ausufernden Formen und Farben erinnerten an mutiertest Stillleben von Giuseppe Arcimboldo. Im Innern der amöbischen Kinderschar wanderte ihr Kern, ein kleiner Junge und ein grosses Mädchen, Hand in Hand, mit ihrer schlendernden Zellumgebung mit, und staunte in alle Richtungen.

Das Mädchen sah sich um, nach oben. Ein Blick über die Schulter, auf den gedrungenen Turmbau im Innern des Gartens. Der bewusstlose Spieler stieg höher und höher. Von hier oben ließ sich auf Aris Gesicht, gerade noch ein Grinsen erahnen. 

Im Turm, so hätte das ohnmächtige Alleins wissen können, erfuhr sein Universum ein Novum. Doch da in diesem seinem Universum immer und überall alles ein Novum war. Nichts, so wie es geschah, ein zweites Mal geschehen konnte, viel die erste Konfluenz wie diese, seit Zeit und Raum geboren wurden, nicht weiter ins Gewicht. 

Der Garten, wie die angrenzenden Wälder, schrumpften zum grünen Fleck in braungrauer Giftwelt. Da wo einst das Kaspische Meer den Kaukasus küsste, verdunstete nur eine teuflisch salzige Träne ihr Dasein in den brennenden Himmel. 

In Europa fraßen Riesenfeur die Wälder. Im Osten fraßen Wüsten und Fluten das Land. Das Meer fraß die Küstenregionen. 

Das würde nicht so bleiben. Hätte das Alleins denken können, hätte es denken können. Nichts blieb. Nichts ist. Alles war, alles wird. 

Die Erde zwinkerte blaublinkend dem nichtswollendem Alleins zu und geriet dann aus dem Blick. Das Universum gebar Sonnen, stanzte schwarze Löcher ins Kausale, verwob Galaxienclaster, atmete durch sein Wabennetz an Voids das Nichts ein und aus. Und schwoll an, in Überlichtgeschwindigkeit zu einem wirklich großem Kürbis.

ENDE

aufgewacht

von Dion Beeck

Auszüge aus meiner Biografie

Heute ist mein 80ster Geburtstag. Und ja, manche Rituale gewinnen mit der Zeit an Bedeutung. Den Rest des Nachmittages verbringe ich in der Ausgleichsimulation. Zusammen mit einigen Hundert älteren, sowie ein paar wenigen jüngeren Menschen, in der Arena, Backsteinfossil direkt an der Spree und arbeite pö a pö meine Schuld ab.

Wir zerlegen sorgfältig all die Dinge, mit denen jahrzehntelang Welt und Menschen an den Rand des Abgrunds manövriert wurden. Überall auf Erden stehen jetzt Ausgleichssimulationszentren und laufen sogenannte BS (balancing – simulatuion’s – Projekte. Hier in der Arena stapeln sich in haushohen Regalen unzählige Überflüssigkeiten aus Zeiten massiver struktureller Gewalt. Einst unterschätze Energiefresser wie Wasserkocher, Rührstäbe, Toaster, elektrische Zahnbürsten, Soundgeräte, Plasmabildschirme, Spielekonsolen, Fernseher, Staubsauger, 1000 Arten von elektrischen Koch und Küchengeräten, elektrisch verstellbare Fernsehsessel, E-Türöffner, E-Bilderrahmen, Fernbedienungen, Babyfone, batteriebetriebene Milchschäumer, Dosenöffner, fahrstuhlgroße Kühlschränke, E-Bords, E-Roller, E-Schnickschnack, scheinbar unverzichtbar seinerzeit, oder einfach nur originell und irgendwie praktisch. Und überall, wie flachbunte Invasionen aus Zeiten kollektiven Irrsinns, Mobiltelefone, Tablets und Computer.

Eine Frau, scheinbar älter als ich, vermeintlich „Schuldbeladener“ niedergeschlagener, steht auf ein Mal neben mir, während ich, mit filigranen Werkzeug, winzig kleine Kupferschrauben aus einem Ventilatormotor drehe und diese in entsprechendes Behältnis klimpern lasse.

„Ich hatte das Periodensystem der Atome gleich nach der Schule wieder vergessen.“ erklärt sie mir. Ich dachte, alles andere ist wichtiger, als Physik. Jetzt wissen wir es besser, nicht war. Eisen, Kupfer, Kohlenstoff, Gold, all diese schweren Metalle und Grundbausteine organischen Lebens wurden in explodierenden Sonnen erbrütet. Homöopathische Mengen davon existieren im gesamten Universum und wir haben Zierschnallen an Handtaschen daraus gemacht und Schrauben für Ventilatoren. Unsere Familie betrieb eine Autowerkstatt“, ergänzt sie etwas unvermittelt und legt drei weitere Ventilatoren zu den meinen.

„Hat es einen Grund, dass du dann keine Autos re-ver-rohstoffst?“ Frage ich sie.

„Die werden doch alle zusammen mit den Flugzeugen auf den ehemaligen Flughäfen re-ver-rohstofft. Ich fahr nicht gerne mit den Öffentlichen. Ich traue dem KIV nicht. Der BVG war mir lieber. Ich wohne hier um die Ecke, weißt du. Ob ich hier oder da meinen Ausgleich leiste, kommt doch auf’s Selbe raus.“

Ich lächle sie an. Uns beiden war bewusst, dass das Wort >Simulation< aus gutem Grund vor dem >Ausgleich< stand. Es galt, nicht einer weiteren Illusion anheimzufallen. Den epochalen Schaden, den im Besonderen die Spezies Mensch in den letzten 300 Jahren auf dem Planeten angerichtet hat und im speziellen die damalig sogenannte Wohlstandsgesellschaft, ließe sich nicht durch ein lebenslanges Ehrenamt im Re- und Downcyclingsektor ausgleichen. Wir hatten die Welt karkassiert. Erst in duzenden, oder mehr Generationen, bestand die Hoffnung, ein wenig wieder gut zu machen. Ob jemals die Gletscher zurückkehren, die Permafrostböden, die Jahreszeiten, die einstigen Küstenregionen, der Schnee, die unzähligen Inseln, würde für Jahrhunderte ein Rätsel bleiben. Sicher blieb, die Nashörner kehren nicht zurück. Dies galt ebenso für die Tiger, die Mauersegler, die sich im Fluge paaren konnten, die Eisbären, unzählige Kleinstlebewesen, die Wale und Delfine und Elefanten. Milliarden von Tier- und Pflanzenarten würden niemals zurückkehren.

Dennoch, die täglichen Arbeitsstunden in den BS, in denen wir die beschämenden Überreste unserer fatalsten Epoche auseinandernahmen und re-ver-rohstofften, gab uns doch zumindest das Gefühl, einen winzigen Teil unsere Verbrechen wiedergutzumachen.

Hier im einstigen Deutschland besaßen wir ein wenig Übung darin, uns unserer schuldbeladenen Vergangenheit zu stellen. Wie schon einmal, kamen uns unsere Verbrechen, während wir sie begingen nicht wie dergleichen vor. So ist das Leben eben, logen wir uns schwer beirrbar in die Taschen. Was im Licht der Objektivität die Destruktionsspieralen antrieb, erklärten wir uns und allen anderen als zielführende und notwendige Alltäglichkeiten. Und wie schon einmal wussten wir es doch in Wahrheit besser. Setzen unser ausserordentliches Talent ein, uns die Dinge „schön“ zu reden und zu denken, um drohende Konsequenzen zu vermeiden. 

Der Unterschied zu den offensichtlicheren Verbrechen, beispielsweise denen, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts stattfanden, war nur, dass es im Anschluss an die letzte, sehrviel größere Katastrophe die wir zu verantworten hatten, keine Gerichte gab. Und weder während, noch nach unserer Verbrechen, gab es Kläger*innen. Schlicht deswegen, weil alle die gleichen Verbrechen begangen hatten. Nun blieb denen, die Kenntnis hatten, ob der heilsamen Wirkung der radikalen Ehrlichkeit zu sich selbst, freiwillig in den BS zu arbeiten.

Ob an Land, auf Kontinenten aus Plastik, die in den Ozeanen trieben, oder unter Tage in tieferen Erdschichten, die abgetragen und aufwendig entgiftet werden mussten, da die Giftstoffe tief und für Jahrmillionen im Fleisch der Erde saßen. Die künstlichen Intelligenzen hatten gottlob Verfahren entwickelt selbst mehrfach raffiniertes karbonhaltiges Material hochprozentig zu re-ver-rohstofften. Der Aufwand indes, um ertragreiche Mengen z.B. für medizinische Zwecke aus dem sträflich missbrauchten Öl und Naturressourcen zu gewinnen, blieb immens.

Vor Jahrzehnten arbeiteten die meisten Menschen, um Geld zu verdienen und sich damit aktiv an der großen strukturellen Gewaltorgie gegeneinander und gegen die Erde zu beteiligen. Jetzt arbeiteten die meisten um ihre Schuld so weit als möglich auszugleichen. Es gab Menschen, die machten fast nicht’s anders mehr.

„Wahrst du auch in der Wirtschaft tätig?“ will die Frau wissen, ebenfalls um ein Lächeln bemüht. Ich schüttle den Kopf.

„Zwischen meinem 18. und meinem 30. Lebensjahr bin ich, gefühlt, so gut wie jeden Tag mit dem Auto gefahren. Ohne auch nur nachzudenken, riesige Strecken. In jungen Jahren knapp 60 Kilometer von Weilheim nach Starnberg beispielsweise, gern mal hin und zurück, nur um einen Hamburger beim neuen trendy Fastfoodanbieter zu kaufen. Ich war begeisterter Kaffeetrinker, Erdbeeren im März, tonnenweise Schokolade, schicke Klamotten, alles immer möglichst billig. Fleischesser. Auch später als ich sehr genau wusste, was ich mit all dem anrichtete, habe ich zwar bewusster und sehr viel weniger konsumiert. Dennoch kam ein Leben unter 1 ½ – 2 gah für mich nicht in Frage. Wieso hätte ausgerechnet ich auf das bisschen Überfluss verzichten sollen? Andere wahren doch viel schlimmer. Wie wir alle hab ich zu spät begriffen, dass auch dieser Gedanke einer der Zähnchen des Dosenöffners war, mit dem wir an der Büchse der Pandora schraubten.

Sogar heute Abend gibt’s Fisch. Freilich aus der Spree geangelt.“

Ich werde leiser. Beschämter. In den Weltmeeren ist Fischen mittlerweile geächtet. Die einzige Chance, dass sich dort überhaupt noch etwas regenerieren konnte. Wir hatten die Komplexität des Universums Ozeane tatsächlich nie wirklich begriffen. Die AI’s brachten Begreifen. Wie bei so vielem.

„Nächtelang saß ich vor zwei großen Bildschirmen. Hab mir Serien und Filme reingezogen deren Produktionen Unmengen von Ressourcen kosteten. Das übliche eben.

Ich feiere heute Abend hier in der Nähe meinen Geburtstag. Möchtest du nicht auch kommen?“

Jetzt gelingt ihr ein vollständiges Lächeln. Fremde Menschen einzuladen, war völlig in Ordnung.

Irgendwann am Nachmittag, verlasse ich nach einigen Stunden harter Arbeit die Arena. Die heiße Dezembersonne heißt mich willkommen. Ein Riesenschwarm Stare flattert auf und umkreist das Gebäude. Ich seh einige Menschen in der Spree schwimmen. Höre Kinder lachen.

Den AI’s war es gelungen, das uralte Kanalisations- und Abwassersystems Berlins aufwendig und unauffällig zu modifizieren. Wie vielerorts besaßen nun die öffentliche Gewässer der Stadt Trinkwasserqualität.

Ich schwimme wie viele einfach in Klamotten zum anderen Ufer. Klettere dort aus dem friedlichen Fuß und streife durch einen kleinen Wald dahinter tiefer in die Stadt zurück. Bei 35 Grad im Schatten war alles schnell wieder trocken. In und um die überwucherten bewohnten Ruinen, einstig protzige Gebäude, die wie ein Großteil der Rest der Stadt verschwunden sind unter dichter grüner Baum- und Sträucherdecke, zwitschert es laut und flattert es wild.

Ich schlendere auf einer der offenen Strecken entlang. Geräuschlos und ein wenig wie friedliche Tiere weicht mir ein ums andere Mal ein Fahrzeug aus, still autonom und mit effizienter Brennstoffzelle ausgestattet. Manchmal unbemannt, manchmal dösen Stadtarbeiter*innen darin. Ein Krankenwagen rauscht kaum hörbar von hinten an mir vorbei. Plötzlich umfließt mich ein Schwarm von Fahrrädern. Bizarre Eigenbauten aus Schrottresten des Hochanthropozäns gemischt mit effizientem Hightech aus AI Produktion. Hunderte. Die Menschen auf den Rädern kichern, plappern, winken und lächeln mir zu, ein paar haben sogar noch alte Klingeln die längst zu nichts anderen mehr taugen als zum freundlichen Grüßen. Der Fahrradfluss, der mich zu beiden Seiten umspült, will gar nicht mehr abreißen. Ich drehe mich grinsend um, um einschätzen zu können wie lange ich noch gezwungen bin geradeaus zu gehen. Ich erinnere mich wage an Zeiten, als ähnlich große Menschengruppen von nur einer Hautfarbe zu sehen waren. Auch das ist längst Vergangenheit. Schon vor der Aufgabe der Grenzen ob der Millionen die kamen aus brennenden, tobenden, stürmenden Welten.

Unversehens löst sich der Fahrradschwarm auf. Zerstäubt in kleine Gruppen und einzelne urbane Reiter*innen die in rundum begrünte Seitenstraßen und Gassen verschwinden. Neuroschnittstellen aus injizierten Nanotransmittern potenzierten nicht nur unsere Schwarmintelligenz, sie halfen uns, trotz all den schrecklichen Dingen die vor Jahren geschehen wahren, bei Verstand zu bleiben. 

Vor dem globalen Kollaps standen die Chancen gut, dass die Computer, sobald sie denn eigenständig zu denken begannen, die durchweg maligne Menschheit schlichtweg ausradieren würden. Doch wie so oft schlug die Evolution einen höchst unerwartet Haken und die artificial-general-intelligence beschlossen die menschlichen Defizite unterstützend auszugleichen. In maßgeschneiderten Lernprogrammen wurde uns unser hochaggressives Potenzial offenbart. Und das überall sichtbare Zerstörungswerk brachte, zumindest eine Zeit lang, selbst die hartnäckigsten Zweifler zur Vernunft. Endlich dachten und handelten wir langfristig, umsichtig und friedensstiftend. Diese Form von Arbeit, die vor dem Kopals nur so wenige ins Werk setzen, bewegte nun kritische Massen.

Ein Mädchen-Junge skatet allein, aber nicht einsam wirkend sein-ihr Regenbogenschwert schwingend zwischen Straße und Auffahrt einer Wohnbaracke an mir vorbei. Sie-er sieht mich, skatet zu mir rüber und lugt erwartungsvoll zu mir runter. Jetzt erkenne ich ihn-sie. Ein Hacker aus meiner Nachbarschaft. Ein’s dieser Kids, die aus alten Elektroteilen seltsame Module zusammenschraubten, um damit den AI’s ihre Geheimnisse zu entlocken. Es hieß, das manche Hacker genau wussten, was vor dem Urknall war und nach Mitteln und Wegen hackten, über etwas zu berichten für das es faktische keine Sprache gab.

„Kannst Du die reparieren? Sie-er hält mir eine alte Analogkamera hin. Ich nehm ihm-ihr das Antiquart aus der Hand, spiele ein bisschen damit herum und erkenne schließlich, “der Spiegel bleibt hängen was? Kenn ich das Problem. Ich mach sie dir wieder fit. Aber immer schön sparsam sein, mit den Chemos beim Entwickeln.“

„Willst du mich veraschen. Du bist die Generation die mit nichts sparsam war. Ihr habt die Welt gegrillt, nicht wir. Wir passen auf.“

„Du hast recht. Dich masszuregeln war scheiße. Tut mir leid.“

Mit einem breiten Grinsen wird mir verziehen. Ein Plönk mit dem Regenbogenchristall an meine Stirn scheint die Vergebung zu besiegeln. Das wir Alten uns bei den Jungen entschuldigen war das Mindeste. Kann nicht oft genug passieren.

„Glückwunsch zum Geburtstag.“ spricht das Grinsen. Sie-er hat mein Implantat gehackt. Schätzungsweise sogar in diesem Moment.

„Ich komm zu deiner Feier nachher“.

„Nichts dagegen. Und wie machst du das?“

„Ich mach das nicht. Ich hab einfach nen guten Draht zu ein-zwei freien AI’s. Die mögen mich. Die reden mit mir. Mit dir nicht?“

„Nicht von allein. Viele haben Angst vor den AI’s. Viele von uns Alten. Das die deep learning systeme irgendwann die Schnauze voll haben könnten von uns Menschen und uns…“

„Ohne die AI’s geb’s uns längst nicht mehr, Alter. Und solange wir nicht wieder anfangen uns gegenseitig und die komplette Natur zu killen, ist alles gut. Bis später, ich bring’n paar Freunde mit.“

Weiter gehts in Richtung temporäres Zuhause, nicht mehr länger als fünf-sechs Jahre irgendwo zu bleiben gehörte, zu den zahlreichen Tricks die wir kannten. Tricks die es friedlicher machten auf der Welt, kreativer, liebevoller. Es gab ja auch mittlerweile genug frei stehende Möglichkeiten zu wohnen. Und bei einer Jahresdurchschnittstemperatur von 20 Grad brauchte es weder Heizungen noch geschlossene Räume.

Auf den Dächern der Baracken haken ein paar kichernde Menschen, gerne auch mal nackt, in ihren Hochbeeten herum. Sich hochprozentig selber zu ernähren, war längst wieder, hartes aufwendiges Tagwerk, das Zeit und Mühe kostete. Ich kannte jedoch niemanden die oder dem dies etwas ausmachte. Aus Demut und Verzweiflung war längst eine ursprüngliche Lebensqualität gewachsen.

Flughühner gurren zufrieden, während sie sonst wo ihre Eier legten. Langfällige Kuhfamilien zupfen Blätter von den Wänden, legen ausgeblichenes Graffiti frei und blicken mir neugierig nach, während ich gemeinsam mit einem schnüffelnden Fuchs über die hoch begraste und einsame Admiralsbrücke ziehe. Alles was nicht fliehen und kämpfen konnte wurde nicht mehr gegessen. Wer Fleisch wollte, musste tief in die Wälder und jagte Elche oder Wildschweine. Manche kamen nicht zurück. Die Wildtiere hatten uns noch lange nicht verziehen. All das war kein Gesetz. Es gab keine menschengemachten Gesetze mehr. Wie bereits erwähnt, ein Großteil von uns wahr zu Vernunft gekommen.

Tausende von Insekten schwirren herum. Das feuchtwarme Klima hatte viele von ihnen zurückgebracht.

Allmählich tun mir dann doch meine Füße weh. Ich entscheide in nächsten Tagen meine Bußerituale ein wenig altersgerechter zu gestalten, und zumindest mit dem Fahrrad zum re-ver-rohstofften zu fahren. Weniger Umwege.

Es dämmert, als vor mir der Waldhügel der Hasenheide sichtbar wird. Der wächst, wild duftend und von krächzenden Krähenschwärmen umschwirrt, wie ein urbaner Regenwald aus der Stadt. Auf dem Weg hinauf bleibe ich stehen. Vor mir steht eine Wölfin. Sie neigt ein wenig den Kopf, als würde sie mich auf „unserem“ Waldhügel begrüßen, erkennt mich und entlässt mit einer Bewegung ihre fünf Jungen aus ihrem Versteck. Die Familie zieht geräuschlos an mir vorbei, ich darf weitergehen. Die Wildtiere in den Städten schienen uns verziehen zu haben. Ich hatte nie von einem Angriff in Berlin gehört.

Nachdem ich in fortgeschrittener Dämmerung endlich den höchsten der Hügel erklommen hatte, empfängt mich der Klang wilder Musik, ausgelassenes Lachen und der Geruch leckersten Kochwerks. Unter meinem Baumhaus brennen drei bis vier bescheidene Feuer, um die die Kinder und Alten und Mittelalten, tanzen und sitzen und spielen und schwatzen. Ein gutes duzend alltäglicher Parkmusikant*innen mit Trommel, Birambau, Gitarren, Perkussion, Flöten und einem alten, perfekt gestimmtes Klavier hatte sich wie zufällig auf dem Hügel eingefunden. Aktuell flouwtet sich die Jam Session in einen prächtig tanzbaren Entnogroov zu dem mein Nachbarhacker und zwei seiner Freund*innen in neusprachigen Mixspeak rappen.

Ich will’s erst gar nicht glauben, aber unter dem Haus sitzt ein urvertrautes fröhliches Fossil und sopannt ein breites Lächeln durch’s durch wunderschönes Faltengesicht.  Meine beinahe  100 jährige Mutter hockt glücklich in überbordenden Kissenthron, der ihre zierliche Gestalt fast vollständig verschlingt. Sie hat mich noch nicht bemerkt. Liest einer Traube Kinder und Teenes, die an ihren Lippen hengen, aus einem Buch vor. Die Worte kamen mir bekannt vor. Sie hatte doch wahrhaftig die beschwerliche Reise aus der Küstenregion um Brandenburg auf sich genommen, um mit uns zu feiern. Als mich das Glück sie zu sehen in ihre Richtung saugt, tauchen zwei weitere Gäste vor mir auf.

„Unser Geschenk für Dich.“

Julian und Marie flankieren mich, greifen mir unter die Arme, um meinen strapazierten Beinen eine Pause zu gönnen. Die Geschwister sind bekannte Schreiberlinge und wunderbare Freunde. Der Buchdruck gehört zu den wenigen weiter florierenden Industriezweigen. Selbstredend gab es ausschließlich Cradle to Cradle Produkte. „Der Wert der Gleichwertigkeit?“ will ich wissen, während mich die beiden durch die Leute begleiteten. „Seit wann ist es raus?“

„Seit ein paar Tagen.“ freut sich Julian.

All die lieben Menschen zu sehen, die Freunde zu begrüßen, die Küsserei… Ein Spalier der Begegnungen und Willkommenheißungen, gibt mir den Rest.

Ich befreie mich aus dem lebenden Rollator und lasse mich ebenfalls in einen kapitalen Kissenberg plumpsen. Das lächelnde Geschwisterpärchen nickt verständnisvoll und Julian wird von seinen eigenen Kindern aus meinem Blickfeld getanzt. Marie hält Ausschau nach ihrer Familie und macht sich auf zu ihnen. Über mir wippen die bekerzte Lampions in den Bäumen und darüber, über den flüsternden Baumkronen flimmert ein prächtiger Sternenhimmel. Ich denke darüber nach, jetzt einfach zu sterben. Ein guter Augenblick. Und in eben diesem fragt mich mein Implantat, ob es einen eingehenden Anruf durchstellen darf.

So wenig Licht störte die Nacht, dass die Arme der Milchstraße über uns leuchten. Ich erlaube den Denkkontakt. „Wir haben ihren Neuroship zu einer Bombe umprogrammiert und werden in wenigen Sekunden ihren Kopf sprengen. Sie dürfen einen letzten Wunsch äußern“ Die Stimme meines Freundes klingt, als würde er neben mir sitzen. Stattdessen musste er im schnellsten und mitweltschonendsten Transportmittel aller Zeiten auf dem Weg von Kinshasa nach Berlin sitzen.

„Niklas! Du sitzt nicht etwa im Hyperloop? Haben sie Dir nicht gesagt, dass das europäische Ende versehentlichen aufgelassen wurde. Die schießen euch direkt auf den Mond? Wie war’s im Rat?“

Niklas war einer der Vertreter der eurasischen Ratsmitglieder, die sich gemeinsam mit den anderen zum quartalen Austausch getroffen hatten. Im globalen Rat waren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seit Jahren fester Bestandteil der amorphen Regionen. Zuerst berichteten, in der Regel, die NaturwissenschaftlerInnen. Brachten absolute Größen und unumstößliche Gesetzmäßigkeiten in Erinnerung, mahnten bedenkliche Entwicklungen an und schlugen konkrete Handlungsoptionen vor. Stets das Wohle aller und der Mitwelt als erstes in den Blick nehmend. Erst dann wurden menschliche Interessen eingebracht und abgewogen. Die Sinnhaftigkeit dieser Reihenfolge war mittlerweile planetarer Standard. In Zweifelsfällen wurden die AI’s zurate gezogen.

Dieses Treffen trug den Titel, >wie es ist, werden könnte und nie mehr werden dar“<

„Vielversprechend. Erzähl ich dir später. In einer Stunde sind wir in Berlin. Gleich geht’s unters Mittelmeer. Die Musik beu euch ist ja geil!“

Die Mondin ging auf über dem Wald. Voll und hell und schön.

„Die kommen alle aus den Büschen und feiern hier mit uns. Das geht wohl noch’n paar Tage. Wir feiern auch gleich in Cornelias rein und so…“

„Ick freu mir.“ endete der Freund mit gewohnter Grinsestimme und verschwand aus meinem Kopf.

Ein weiterer Mensch rumst in meinen Kissenberg und knutscht meine Wange. Ihre Hunde, immer an ihrer Seite, schlabbern mir übers Gesicht. „Muß deine alte Mutter jetzt sogar noch zu dir rüber kommen?“

Wir begrüßen uns, ein wenig so, wie sich zwei altersschwache Dinosaurier begrüßten. Zwei sehr glückliche Dinosaurier. Sie erzählt mir, dass sich die Nachbarn um ihre Tiere kümmerten und sie statt mit dem Loop mit dem Schiff über das Haveldelta gekommen war, weil man da auf Deck rauchen konnte.

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meiner Mutter vor ein paar Wochen, als wir Getreidekaffee schlürfend auf der Dachterrasse ihres Hauses gesessen und auf die neue Küste ein paar Kilometer weiter geblickt hatten. Wir wahren uns einig darin, dass wir es eigentlich nicht verdienten so gesund, so alt zu werden. Doch dank der modernen AI-Medizin lag das Durchschnittsalter mittlerweile bei 120 und die Generationen nach uns, hieß es, vermochten das doppelte Alter zu erreichen. Es gab einige Gründe, weshalb der Rat und die AI’s Derartiges zuließen. Das Tragische daran war, dass sich nach der Kaskade, wie der große Kollaps überall genannt wurde, das Thema Überbevölkerung erst ein Mal erledigt hatte. Ein erträglicherer Grund war, wir waren Zeitzeugen. Wir Alten wurden viel besucht, gingen oft auf Reisen. Es galt zu berichten, zu dozieren, zu unterrichteten. Wir wahren lebendes Gedächtnis der Epoche der Irrungen und der Dummheit. Geschichte war mehr denn je die Chance aus unseren Fehlern zu lernen.

Ob wir es zudem verdienten, glücklich zu sein? Manchmal ist es so. Heute zum Beispiel.   Fester Bestandteil dieses Glücks war es, jeden Tag zu arbeiten. Weniger für uns selbst, das war dank intelligenter Umfeldversorgung nicht mehr notwendig. Wir arbeiteten nicht für uns, wir arbeiteten an uns. Für die Wiedergutmachung und an der Heilung einer schwer verletzten Welt. Füreinander und darum jeden Augenblick des Lebens wertzuschätzen.

So wie diesen, an dem auf ein Mal all so geliebten Freunde um uns sind, die beiden Saurier aus ihren Kissen ziehen und zum Feuer hin und zum Tanzen zwingen. Die Kinder tanzen, die Jungen, die Alten, diverse Geschlechter, diverse Zustände, alle Farben des Spektrums. Das Bedauern, das Lachen, das Erstaunen und die Dankbarkeit um diese x-te Chance, die uns alle hier und heute tanzen machte.

Die Musik war prächtig, und tief im Wald auf dem Hügel heulte eine Wölfin.

aufgewacht – Oktoberfest

 

Oktoberfest

Von Dion M. Beeck

niemand nimmt uns unsere Freiheit.

Mirabella starrte fassungslos ihren Schuh an. Der schwarze Schnürschuh blickte stilvoll und echtledrig zurück. Vorwurfsvoll, archaisch und ebenso unentspannt wie Mirabella. Das bröckelige schwarzbraune Relikt aus irgendeinem Tier gefertigt, dessen Name Mirabella sich einfach nicht merken konnte und das, wie die meisten Tiere, längst ausgestorben war, war kaputtgegangen. Einfach so, ohne dass sie grob gerissen, oder die Schnalle die sie in der anderen Hand hielt aggressiv verdreht hätte. Einfach so, weil der Schuh so alt und dieses „Leder“ so hart und unflexibel geworden waren. 

  Sie erinnerte sich noch wie ihre schöne Mutter ihr den Schuh damals überreicht hatte beim Picknick an der Isar aus dem grellen Licht raus. Das helle Haar hatte das Licht ganz eingefangen. Sie die Mutter, der Carlo und der Marius auf der geblümten Decke draußen am Pullacher Strand, wo noch nicht viel los war Mitte März. Das Picknick war zu Ende und Marius hatte sein Erdbeermarmeladenbrot zum Teil im Gesicht, zum Teil auf seiner nackten Haut verschmiert. Es war Mirabellas Geburtstag gewesen und ganz stolz war sie, weil die Mutter ihr das große Paket in Zeitungspapier überreichte aus diesem grellen Gegenlichtschein der Sonne, in dem sie kniete. Im Karton schlief das Dirndl, wartend von ihr geweckt zu werden, und die Schuhe. 

„Viel sand net übrig von der Familie…“ Hatte die Mutter ein bisschen traurig gemeint. „Doch dafür ist’s ganz schön alt. Die Oma hat’s bekommen, als die volljährig wurd. Dann i und nu du. Schön oder?“ Marius wollte am Stoff zeihen, aber das ließ Mirabella nicht zu. Ihr Bruder war erst vier. Der würde den schönen blauen Stoff mit seinen Marmeladenfingern achtlos ruinieren. 

  15 Jahre später wurde sie doch noch hektisch, schob den Schuh über ihren rechten nackten Fuß und drückte und zog und knotete in jäher Verzweiflung die Riemen in allen möglichen Varianten um ihren Knöchel, in der verzweifelten Hoffnung den entstandenen Schaden zumindest notdürftig kaschieren zu können. Da riss ein weiteres Stück ab. 

  Mirabella saß auf dem Betonsockel der klimaneutralen Betonkabine. Unter runder, milchig glimmender LED-Decke, in schönen blauen Dirndl mit weißem Blumenkettenmuster, saß sie da. Riss und rupfte und zerrte den Schuh, wie verrückt geworden, in Stücke und weinte bitterlich los. 

 Das wurde nichts mehr. War ihr lange klar. Sie hätte die Schönste seihen können. Wie damals sicher ihre Mutter, und davor sicher ihre Großmutter die Schönsten waren auf der Wiesn. Von allen Madeln die Schönste. 

  Als beide Schuhe ganz und gar zerstört um den Sockel verteilt lagen, zog sie aus dem großzügigen Ausschnitt, zum Dirndl gedachtes Spitzentaschentuch und trocknete damit die Tränen. Das nimmerweiße Tuch wurde ganz schwarz vom Tränenliedschattenmisch und segelte wie schwerelos in den Schustückeverhau. Mirabella stand dann auf und stand da. Stand barfuß in ihrem zerbröselten Traum und begann zu frieren.

Außerhalb des Klimabunkers fror niemand. Vor dem stehend, warf sie letzten Blick ins Innere, das wieder gänzlich sauber war. Allen Dreck hatte sie eingesammelt und in den kleinen Rucksack verbracht zusammen mit ihrem Alltagsgewandt. Denn zusätzlich zahlen wollte sie nicht auch noch für Vermüllung öffentlicher Anlagen. Schließlich wusste die Stadt immer, wo sie war, alles, was sie tat. Über alles wusste die Stadt alles, denn ihre Augen waren überall und immer offen. 

Das Madel baren Fußes, zog sich den Atemschutz über, befreite das helle Haar, legte die Gummis darunter und ging dann schnellen Schrittes über den gerissenen Asphalt. Der war schon noch recht heiß. Noch immer aufgeladen von der Sonnenglut des Vortages. Und die Sonne schlich schon wieder hinten am Horizont den Tag hoch. Drohte sich an, mit orangeroten Flimmern über München.

Um die Zeit wahren die Straßen ganz voll Menschen, weil’s so früh am Tag gerade noch erträglich war mit der Hitze. Längst wahren das mehr Schwarze als Weiße. Auch wenn der Unterschied hinter den schmutzig grauen Atemmasken nicht immer leicht zu erkennen war. Mirabella erkannten den Unterschied immer. Dank der neuen Regierung durfte man das ja auch nun endlich wieder sagen, ohne verachtet zu werden, von allen. Schwarze! Die Regierung gab ihr ja auch Recht, wenn sie sagte, dass die Schwarzflut schuld war an allem. 

Als Mirabella klein war, kamen sie. Erst Tausende dann Millionen. Viele von ihnen wurden schon im Mittelmeer versenkt von Frontex und den EU-Streitkräften, die den Kontinent bewahren wollten vor der Menschenwelle. Doch gelungen ist es nicht. Im Laufe der Zeit kamen doch Millionen vom Süden in den Norden hoch. Über die Alpen kamen die und von sonst wo her. Krüppel und Kinder und Frauen. Vor allem Frauen. Die meisten gesunden Männer, so hieß es, sind wohl in den Kriegen draufgegangenen, die überall tobten. So viel Krieg gab es auf der Welt wie noch nie davor. Grenzkriege, Wasserkriege, Landkriege, Bürgerkriege. Mirabella war keine Politische. Sie hatte genug zu schaffen in ihrer kleinen Mirabellawelt. Die ganzen Kriege bei den Schwarzen waren ihr eigentlich wurscht. Die schwarzen Männer sollten nur wegbleiben. Die Afrikaner, Spanier, Italiener, Portugiesen hatten doch in ihrer Kultur keinen Respekt gelernt. Behandelten alle Frauen wie Dreck. Nur das die Welt um den Äquator rum gar nicht mehr bewohnbar war und alles darum zur Wüste wurde, das war ihr gar nicht einerlei. Denn wegen dem kamen sie alle hoch zu ihnen. Und dann versauten sie einem den Tag, weil sie rempelten, und stießen von überall und allen Seiten. 

  Bald würd ihr das besser gehen. Bald würde sie wild tanzen mit lustigen Burschen auf dem guten alten Oktoberfest. Der schönen trauten Wiesn. Letztes Stück vergnügen in all dem Grau und rotorangenen Flimmern. Den schwarzen Menschen versuchte sie besonders auszuweichen. Aus den Kindern, die vor Jahren kamen, wurden ja schon junge Männer. Die wollten ihr nur an die Wäsche. Das war deren Kultur. 

Plötzlich stand einer vor ihr. Kein Schwarzer, ein Weißer. Ein Polizist. Die wahren überall. Die passten auf sie auf, dass die Schwarzflut nicht machen konnten, was sie wollte. 

  „Die Reichenbachbrücke ist gesperrt, da ist Terroralarm. Wenn sie auf das Oktoberfest wollen müssen sie über die Wittelsbacher.“ Mirabella konnte das Gesicht des Polizisten gar nicht sehen durch das dunkle Schutzvisier vom Helm. Und die Stimme des Mannes, sie glaubte schon, dass da ein Mann vor ihr stand. Auch wenn sie sich nicht sicher seihen konnte bei der dicken Panzeruniform. Auch der Ton wurde durch das Atemschutzgerät ganz verzerrt. Trotzdem wird es wohl ein freundlicher weißer Mann gewesen sein, der da vor ihr stand. Erst jetzt begriff sie, dass er gar nicht nur vor ihr, sondern vor einer ganzen Menschentraube stand, zu der sie auch gehörte. Alte weiße Menschen in alten speckigen Lederhosen und alten ausgeblichenen Dirndl mit traurigen müden Augen über dem Atemschutz. Die meisten drehten sich um und gingen einfach weg. Der Weg über die Wittelsbacher war ihnen dann wohl doch zu weit. 

„Mirabella Wagner! Wegen der Verunreinigung des Klimabunkers buchen wir eine Mahngebühr von 30 Globos von ihrem Bürgerkonto ab“ Jetzt hatte sich der Stimmverzerrte doch noch ganz an sie gewandt.

  Mirabella war ganz erschrocken. „Aber ich hab’s doch wieder weg gemacht, alles.“ Ihr schönes bleiches Gesicht sah ganz zerknautscht aus. Wurde zur bitteren Maske aus Unverständnis. Das Visier sah sie an. „Wir mussten Restbestände beseitigen“ erklärte der Panzerpolizist, wandte sich ab und ließ sich von der schwarzgrauen Masse schlucken.

Ihre Füße schmerzten grauenvoll, doch nichts würde sie abhalten. Nicht die 35 Grad, die’s schon hatte und die schnell mehr wurden. Nicht der Säuregehalt in der Luft, der schon wieder den Grenzwert erreichte. Nicht die kreischenden Baumaschinen, die neue Aufsätze auf die Häuser wuchteten, und Aufsätze auf die Aufsätze, die mit Stahl und Müllstoff verklebten und verspannten, und deren Hämmern und Pochen und Sägen alles übertönte. 

Heute war Wiesntag. Da hatte sie so lang gespart drauf. Da hatte sie sich doch so lange drauf gefreut. Und da war dann auch die Brücke. 

  Die Isar war ja nicht mehr wirklich ein Fluss unter der. Das war ein grauer Rinnsal der nach Fäkalien stank und Chemie. Weil’s seit Jahren keinen Schnee mehr gab, der zu Wasser hätte werden können, keine Gletscher. So gut wie keinen Regen mehr. Die Schwarzflut hatte ihr Unglück mitgebracht.

  Warum die Brücke fast leer war, konnte sie nicht sagen. Sie schaute zum Himmel, der ganz bunt wurde, und schön wie jeden Morgen seit Jahrzehnten. Schlierenwolken verdampften schnell im heißen Kommen der Sonnenglut, die aufzog. 

  Da rempelte sie wer hart an, dass sie fast gestürzt währe auf den aufgerissenen Asphalt. Und noch einer von rechts, von links noch einer. Sie sah sich um und sah sie wegrennen die Jungs. Rüpel, Halbstarke, ohne Schutzmasken mit schmutzigen Gesichtern. Vermutlich die Nacht auf der Wiesn verbracht. Ganz voll mit Bierersatz und Übermut. Einer sah sich im Rennen um. Sah ganz erschrocken aus, weil sie Mirabella fast umgerannt hätten. Ach ja, die Jugend. So viel hatten die noch vor sich. So viel mussten die richten, was die Schwarzen angerichtet hatten. So schnell rannten die weißen Jungs, so stark und übermütig wahren die, dass Mirabella laut lachen musste und rufen.

  „Ihr seid schon so. Ihr müsst schon Obacht geben auf die anderen“ 

Dann weiter. Weiter über die Brücke. Zur Wiesn hin. 

Über der Brücke schob jetzt die Sonnenglut in die Stadt. In ihrem grellen Kommen schwamm eine Silhouette ihr entgegen. Wie eine Fata Morgana oder einst ihre Mutter an der Isar mit dem Paket in der Hand, in Zeitungspapier gewickelt. Ein verschwommener Geist. Ein Frauengeist im Kleid. Mit wild zerzausten Haaren. Dunkelschwarze Frau kam ihr entgegen auf der Brücke und in dem schwarzen Gesicht hatte sie ein Lächeln für Mirabella aufgespannt. Warum die hier alle keine Schutzmasken trugen? Beim Näherkommen erkannte Mirabella auch wo’s herrührte, das Lächeln. Ihre Dirndl waren ja fast dieselben. Nur, dass die Frau ganz schöne Schuhe trug. 

  So wenig Menschen auf der Brücke. Der Atem der Frau war ganz schwer, rasselte ungefiltert durch giftige, keimige Luft. 

Mirabella war es gleich, dass das Bier wieder furchtbar schmecken würde, weil’s ja nur noch raffiniertes Urin war. Knallte aber prächtig, wenn man zwei drei Maß bewältigt hatte. Sie würde sich besaufen heute, wie schon lange nicht mehr. Im isolierten Bierzelt könnte man auch über Mittag sitzen, ohne draufzugehen, und da bliesen einem zünftig die Menschen und Maschinen auf echten Blechblasinstrumenten, die Flausen aus den Köpfen. So vollgestopft würd’s sein, dass keiner auf dem Boden schauen würde können, um zu sehen, dass Ihr die Schuhe fehlten. 

Die Schwarzfrau im Dirndl blieb dann vor ihr stehen. Direkt vor ihr. Und jetzt sah Mirabella, dass das kein Lächeln war im Dunkelgesicht. Eine Verzweiflung war das. Ein Schmerz wie eingebrannt für immer und für alle Zeit. Ihr Dirndl war dann auch ganz anders als das ihre – ganz zerstört. Da blieb auch Mirabella stehen. Zum Teil vor Verblüffung, zum Teil aus Mitleid, dass aber auch hilflos war so wie die Frau, mit den schwarzen wilden Haaren in dem blauen Dirndl, das große Löcher hatte, das zerrissen war und schmutzig. Was war da geschehen auf der Brücke. War die Frau der Grund, warum kaum einer auf der Brücke lief? Waren all die Leute weg, weil hier was geschehen war, was keiner sehen wollte, keiner miterleben?

  Sie bückte sich, die Schwarze. Als würde sie sich verbeugen vor Mirabella. Für all das Leid, all den Dreck und die Hitze und das Elend um Vergebung bitten, bei der weißen Schönen. Zog dann die Riemen an ihren Schuhen auf. Die echtledirgen, die mal die Haut von einem Tier wahren, das längst ausgestorben war. Als sie wieder wackelig vor ihr stand und Mirabella zitternd ihre Schuhe reichte, wie ganz selbstverständlich, da wurd’s plötzlich still in der Stadt, als würd die dann doch mal atmen müssen. So wie Menschen manchmal ganz still werden, die immer nur reden und reden, oder Kämpfen und kämpfen, oder weinen und weinen und dann doch mal atmen müssen. Vor Mirabella die Schwarze, blickte sie an aus ihrer Verzweiflung heraus. Blickte durch kondensierende Tränen und riesige Liedschattenpfützen um die Augen. Wie aus einem Horrorfilm blickte die sie an, und ihre Lippen wollten nicht aufhören zu zittern.

  Mirabella nahm die Schuhe. Die Finger von vier Frauenhänden die sich durch warme Riemen berührten, die sie berührten. Dann kehrten die dunklen Hände zurück zur dunklen Frau und zitterten nicht mehr.

  „Danke“ konnte Mirabella hauchen. Gar nicht’s sonst gelang ihr jetzt. Aber „Danke“ konnte sie hauchen. Die schwarzen Frau wollte all das wieder gut machen, was ihr Folk über das Nebelmeer gebracht hatte. Ein Paar Schuhe für den Untergang des Abendlandes. Mirabella reichte das. Weil die Schuhe auch zum Dirndl passten. Weil die Frau jetzt weiter stolperte, weil’s ihr wohl auch reichte für heute. Die Stadt machte weiter mit ihrem Brummen und Knallen und Donnern und Rasseln und Sägen, und Mirabella zog sich ihre neuen Schuhe an, die passten. Dann schritt sie stolz und schön zur Wiesn hin. Jetzt würde sie die Schönste sein.

KRIEG

Wolfang Müller und ich teilen, mit vielen anderen das gleiche Kindheitstrauma. In seinem Spiegelartikel vom 01. Mai 2022 beschreibt der Musiker mir vertraute Alptraumbilder aus Zeiten der latenten Kriegsbedrohung. 

Neben dem ich 10 Jahre länger darin aufwachsen durfte, besteht vermutlich ein weiterer kleiner Unterschied; Ich wurde in einem monatelangen Verfahren aufgefordert in eben diesen kalten Krieg zu ziehen und meine Wehrpflicht zu erfüllen. 

Enyway; Mitten im Sturm und Rang, den Kopf voller Flausen und weit entfernt von politischer Denke wurde ich gezwungen über des Menschen fragwürdigste Erfindung nachzudenken. Den Krieg. Hier nannten sie es Verteidigungsfall. Was aber, so dieser denn notwendig würde, auch auf Krieg hinausliefe. Für mein “Vaterland” sollte ich den Krieg zu meiner ganz persönlichen Option machen. Der Krieg, so klang die Einladung, rechtfertigt alles für das es sonst keine Rechtfertigung gibt. Ich darf nicht nur Menschen töten als Soldat, ich habe die Pflicht zu töten. Töte ich nicht, dann ist dies ein Verbrechen. Allerdings kein Kriegsverbrechen. Ein Krieg wohlgemerkt, in dem massenhaft getötet wird ist Völkerrechtlich nicht als Verbrechen einzustufen. Ein Kriegsverbrechen ist, wenn ich vor dem Töten vergewaltige, oder gegen andere „Kriegsregeln“ verstoße. Beim tieftauchen in diese skurrile Materie stieß ich immer wieder auf die Frage, „HÄ?“

Zutiefst verunsichert, ob ich nicht durch einen kosmischen Fehler auf die falsche Welt geworfen wurde, machte ich mich durch das Labyrinth der Regelschreiber:innen auf, um ein Schlupfloch aus diesem offensichtlichen Irrsinn zu finden. Und solche gab es. Ich mußte nur nachweisen dass ich zu dumm, zu klug, zu krank, oder zu schwul für den Wehrdienst war. Nach zahlreichen Tests, in denen ich all dies zu belegen versuchte, wurde mir trotz aller Bemühungen, (wie eine halbe Tube Zahnpaste vor der x-ten Nachmusterung schlucken), dann doch meine Tauglichkeit für das Militär attestiert. 

Was blieb war zu verweigern. Das war, in den 80 Jahren und nach all meinen gescheiterten Ausmusterungsbemühungen, kein Honigschlecken. Das zuständige Kreiswehrersatzamt bestätigte mir, wie jetzt Herr Müller, dass ich offenbar meinen moralischen Kompass falsch justiert hätte. Mann könne mir aber helfen diesen wieder auf Völkerrechtlich korrekte Kriegsführung zu rekalibieren.

Das Korrektiv bildete Seinerzeit ein Tribunal aus drei uniformierten Männern, erhöht vor einer großen Deutschlandflagge thronend. Ich nahm in der, extra dafür präparierten Turnhalle, auf einem kleinen Stuhl platz. Jetzt wußte ich genau, dass meine Anwesenheit auf diesem Planet ein Irrtum war. Ich fühlte mich eingeschüchtert, war fassungslos und zum Glück so wach wie selten davor. 

Heute würde das Tribunal vermutlich aus Wolfgang Müller, Anton Hofreiter und Marieluise Beck bestehen. Die Fragen währen die gleichen. 

„Wenn ihre Freundin im Krieg vergewaltigt würde, und sie hätten eine Waffe…..“

„Wenn ihre Familie bedroht werden würde, und sie hätten eine Waffe…“

„Wenn ihre Freiheit bedroht währe, und sie könnten diese nur retten in dem sie…“

Marieluise, Anton und Wolfgang geben dieser Tage alles um mir klar zu machen, dass es einfach Situationen gibt, die sind alternativlos. Da muß Mann (Frau ja nicht, die wird von Mann beschützt so wie es auch Silensky anordnet) einfach auch mal jemanden töte. Gerne auch indirekt durch die Weitergabe dafür notwendiger Waffen. 

Im Originaltribunal erwachte damals ganz unerwartet mein Selbstbewusstsein. Mir war klar, dass in der Welt einiges grundlegendes falsch lief. Dass sich die drei hoch-dotierten Offiziere vor mir mit Sicherheit im Recht wähnten. Auf der richtigen Seite. Doch der Irrtum wuchs nicht aus den Drei Nasen die da moralisch integer über mir schwebten. Der Irrtum wurzelte tiefer. Der Irrtum war – es gab keinen rationalen Grund Menschen zu töten. Ich wußte das auf ein mal sehr genau. Die wußten es nicht. 

Die Grünen schrieben damals auf ihre Plakate >>Alle Soldaten sind Mörder<< und >>Frieden Schaffen ohne Waffen<<. 40 Jahre später haben sie dann besser mal den Slogan dem aktuellen Sebelrasseln angepasst. >>Frieden schaffen mit mehr Waffen<< 

Die Grünen wahren mir damals eigentlich ziemlich schnuppe. Jetzt sind sie es wieder. 

In Ermangelung an Lebenszeit blieb mir vor allem mein Erstaunen als Ausweg, aus jener für mich äußerst seltsamen, von Gesellschaft und Menschheit anerkannten Selbstverständlichkeit. 

Ein kurzes lauschen in meinen inneren Resonanzraum ließ mich meine klare Antwort darauf hören. Laut und deutlich.

“Krieg ist falsch. Alles daran!”

Mich erstaunt weniger, der Diskurs in diesen krassen Zeiten. Den heiße ich willkommen, dort wo er respektvoll geführt wird. Mich erstaunt die Aufregung (die nach eigener Aussage) auch einen Herrn Müller antreibt. Das Farbbeutel nicht mehr in Richtung Joschka Fischer fliegen wenn der einen Afghanistaneinsatz für eine gute Idee hält, sondern in Richtung derer die es wagen die naive Frage nach Friedensarbeit stellen. Die Empörung darüber, dass die Vernunft einfach nicht einschlafen will, läßt mich nur noch schwer einschlafen. Historieaffine Menschen, die Kriegsstrategien per se für ein Paradoxon halten, bekommen die Moralkeulen um die Ohren. Welche dann noch nachfragt, wird mit halbgaren Prognosen angegriffen. Und wenn das auch nicht hilft holt der Kriegserfahrene mit40er ein paar Weltkriegsvergleiche vom Speicher runter. 

Ich sitze auf meinem kleinen Stuhl während Marieluise mich abfällig von oben herab betrachtet, weil ich durch meinen unreifen Pazifismus auf all die toten Kinder spucke. Müller blättert in Mein Kampf. „Kommen sie mir jetzt nicht damit, dass Nazideutschland kein Atomwaffenarsenal besaß, mit dem es vier bis fünf mal die ganze Welt pulverisieren hätte können“ werde ich gewarnt. Schade, damit wollte ich gerade kommen.

Anton nimmt ein Schlückchen kochendes Wasser. „Da müssen sie sich keine Sorgen machen. Ich gehe mal nicht davon aus dass im Kreml lauter Selbstmordattentäter sitzen.“ Beruhigt er mich lächelnd, während böse Brandbläschen auf seine Lippen wachsen.

Dann frage ich eben was das Ziel eines Aufrüstens von aussen für die Ukraine seien könnte. In diesen Tagen verstärkt die Ukraine Angriffe auf russischem Territorium. Vermutlich verstärkt mit Waffen der Natobündnispartner. Der preussiche Herr März reist aus parteistratigischen Gründen (in zwei Bundesländern wird alsbald gewählt)  in das Herz der Dunkelheit und das Gesäß der Deutschlandbasher, und fabuliert davon, dass wir doch eine Schutzmacht werden könnten. Nicht das erste Mal, dass über diese nächste Eskalationsstufe nachgedacht wird. Die Reihenfolge macht Sinn in den Augen der Waffenschieber:innen. Wenn Helme nicht helfen, dann Gewähre, wenn Gewähre nicht helfen, dann Panzer, wenn die nicht helfen dann Menschen. Die verwöhnten deutschen Jungs würden super vom aktuellen Coronatrauma abgelenkt werden, wenn sie nach flotter Grundausbildung ein bisschen im Dombass rumballern dürften.

Meine Frage lässt Herrn Hofreiters Augen aufleuchten. Ich kann die Antwort dahinter förmlich explodieren sehen. 

>>Was Waffen können? Sie bringen den Sieg! Die Bündnispartner werden den Russischen Bären indirekt pulverisieren. Der Neue russische Präsident Silenski wird auf einem deutschen Leoparden in den Kreml reiten, Nawalny aus seiner Zeller freibomben und endlich aufhören zu sagen, dass wir Deutschen voll die Luschen sind sind und er total enttäuscht ist von uns. Und Putin schießen wir dann mit seinen nutzlosen Spielzeugatomwaffen, in den Mittelpunkt der Sonne!<<

Omikron war schon ziemlich infektiös. Der Krieg scheint mir Infektiöser. Er vernebelt unsere friedenstiftenden Erzählungen, glättet die unzähligen Paradoxien und dreht Gedanken von den Füßen auf den Kopf. 

„Was sollen die Ukrainer Denken?“ Fährt mich Marieluise plötzlich an. „Was würden sie denken, wenn ihnen alles genommen wird und die die helfen können sagen, wir müssen erst mal nachdenken weil wir das eben können?“

Noch bevor ich antworten kann faucht Anton, dass ich doch auch 15 Jahre lang mit russischem Gas geheizt habe, die Warnungen aus Polen und der Ukraine ignorierte und jetzt nicht bereit währe diesen Irrtum wieder gut zu machen. „Der Feind versteht nur die Sprache der Stärke!“

Ich denke an meine Fernwärmeheizung, stelle aber Fragen nach „Syrien – Homs, Aleppo? Afghanistan? Südsudan? Der Jemen? Wo war da so unsere Stärke?“

„Da können wir nichts machen.“ erklärt mir Anton „und zwar, weil wir gerade einen Gas- und Wasserstoffvertrag abgeschlossen haben. Katar sponsert zwar Terroristen, befeuert den grausamsten Krieg seit Jahrzehnten, nimmt Frauen ihre Rechte, aber da muss mann schon differenzieren, Herr Beeck“

„Ausserdem“ erklärt mir Marieluise „ Wir dürfen verfassungsbedingt keine Waffen in Krisengebiete liefern. Firmen wie Reinmetal, KraussMaffei Heckler und Koch, haben zwar trotzdem in solche verkauft. Allerdings an die Angreifer. Das wahren alte Verträge, da konnte mann auch nicht’s machen. Die drei Firmen sprechen nicht umsonst von einer gesunden Wachstumsrate. Da knallen jetzt die Sektkorken. Es gibt eben doch auch Gewinner in Kriegen, nicht nur Verlierer, wie ihr Schnullis immer behauptet. Was dagegen?“

Ich stehe auf und geh. Wolfgang Müller ruft mir noch nach, dass meine Haltung eine klassische Täter-Oper-Umkehr sei, und ihn das wundert, da ich doch soziale Arbeit mache. Dann springen die drei auf und tanzen zu Marschmusik auf dem nächstbesten Vulkan. 

Krieg. Alles daran ist falsch. Ich halte Fragen ob es wirklich Antworten gibt, ob und wie ein Krieg zu führen ist für wegweisend. Ob Zielführend läßt sich von mir nicht beantworten. Ein paar Parteien und Journalisten:innen, die von Unmittelbarkeit überwältigt, nicht nur ihr zentrales Wertesystem hinter sich lassen, sondern plötzlich alle hervorragende Kriegsstrateg:innen wurden, würde ich gerne bei nem Käffchen fragen, wie ich das alles verpassen konnte. Die Änderung unserer Verfassung, und die Negierung der Gründe weshalb uns Waffenlieferungen in Krisengebiete untersagt sind? Warum verdienen europäische Kriegsopfer unter Risiken globalen Ausmasses unsere Waffen, Menschen anderer Ethnien halt nicht so sehr? Und wie bin ich in diese Welt geraten, in der ich, ohne mit der Wimper zu zucken, von >>unseren Waffen<< schreibe?

Aber ich spar’s mir. Mit Anton, Marieluise und Wolfgang ist gerade kein konstruktives Gespräch möglich. Vielleicht muß ich mich auch als tauglicher Mann auf meine Flucht vorbereiten?

So schnell geht das also. Der Krieg, uns so nah wie noch nie, legt seine Metastasen aus. Ich konnte es nur ahnen, damals auf dem kleinen Stuhl in der Turnhalle. Er macht uns glauben, dass er handhabbar sei. Steuerbar sogar. Er macht uns hasserfüllt und angriffslustig. Er lockt das Schlechteste in uns und macht uns glauben es sei das Beste. 

Ich sehe hin, bin eingeschüchtert, voller Angst, und krieg’s nicht gegriffen. Weil es nicht zu greifen ist. Weil es falsch ist. Alles daran. Er brennt uns Herzen und Köpfe aus und holt aus zum nächsten ungeheuren Flechenbrand. Kriege wollen wachsen. Die Bilder von beißenden Qualm brennender Häuser und Menschen machen uns blind. Wir beginnen auf Sicht zu Handeln, greifen zu den Waffen und töten einander. So schnell geht das? 

Ich klammere mich an die wenigen kühlen Köpfe im gluterhitzten Reigen. Mag nicht alles Wasserdicht sein was sie sagen. Aber für Lösungen sind auch diese nicht zuständig. Im besten Fall für Kühlung. Jede Stimme die das Töten ablehnt ist mir willkommen. Und ja, wenn ich noch an Gott glauben würde, würde ich beten, dass die Sprache der Waffen uns am Ende den Frieden bringt. Doch was währe das für ein Gebet?

dialogische Grüße,

(R) EVOLUTION

Warum wir noch nicht für eine rationale Sicht der Dinge bereit sind

Werner Heisenberg sinnierte im Juni 1919 über den platonischen Lehren der Kleinstteilchen auf dem Dach des Pristerseminars in München in der Sonne. Ihn irritierte die seltsam eingeschränkte Sichtweise des griechischen Philosophen und Mathematikers. Wie konnte ein so kluger Mensch davon ausgehen, dass die Welt und alle Dinge aus einer Art Steckklötzchensystehm bestand?
Der Denkansatz der Elementarteilchen war genial, die damit einhergehenden Wissenslücken indes wurden mit dem damalig verfügbaren Vorstellungspotenzen ergänzt. Ein, wie es scheint notwendiger „Schachzug“ zu dem die damaligen Gelehrten in Ermangelung an Elektronenrastermikroskopen, oder eines Teilchenbeschleunigers greifen mussten, um ihre großen Denkkonstrukte in ein geschlossenes, wissenschaftliches Gesamtbild zu überführen.
Doch diese „Technik“ war nie ein spezielles Merkmal historischer Wissenschaftskultur. Das Ergänzen etwaiger Wissenslücken mit vermeidlich wissenschaftlich, oder religiös scheinenden Erklärungen ist lebenswichtige Strategie beinahe jedes Menschen auf der Welt.

https://youtu.be/MbV4wjkYtYc

Die Wahrheit gibt es nicht

In Gesprächen mit den Menschen die mir tagtäglich begegnen, also Begegnungen in Beruf und im Privaten, so auch in der Begegnung mit mir selbst, scheinen mir überwiegend drei wesentliche Elemente in der Symphonie der jeweiligen Wahrnehmungen vorrangig.
1. Das eigene emotionale Spektrum
2. die abstrakten Konstruktionen wie Glauben, Ideale und tendenziöse Theorien
3. und im Besonderen; Die jeweiligen unmittelbaren und stets subjektiven Sinneseindrücke.
Die Umwelt zeigt uns immer nur Ausschnitte. Egal was wir hören, sehen, riechen, schmecken, fühlen, oder tasten. Es bleiben räumlich und zeitliche Fragmente einer in sich geschlossenen Wirklichkeit die wir als Ganzes nicht erfassen können. Zahlreiche, evolutionär bedingte Gesichtspunkte machen uns ein Eingeständnis dieser nahezu universellen Begrenztheit unerträglich. Ein einigermassen geschlossenes „Weltbild“ ist doch für einen ruhigen Schlaf unerlässlich.

Die Wahrheit gibt es nicht (2)

Unsere Wissenslücken werden reflexartig gefüllt, mit Glauben – der in sozialen Strukturen zu Religionen, Wehrten oder Idealen wird. Erfahrungen werden dabei schnell zu vermeintlichen Wissen extrapoliert, Theorien zu Fakten stilisiert. Die einzige Möglichkeit, die Komplexität einer, nur teilweise greifbar und begreifbaren Gemengelage zu (be)greifen ist es, sie zu vereinfachen. Das evolutionär bedingte Streben, nach Erkennen, und territorialer Überlegenheit, macht ein Sich-Eingestehen unserer atomistischen Perspektiven quasi unmöglich. Theoretisch lässt sich zwar darüber grübeln, wie Sokrates es mit dem Satz „ich weiß das ich nicht weiß“ tat, im alltäglichen Getriebe wird diese große und unumstößliche Vermutung jedoch stets aufs Neue zerrieben und von subjektiven Holismen überlagert. Auch Platon behauptete die platonischen Körper, das göttlichen Steckbausteineset, als Fakt ohne wirklich von ihnen wissen zu können.

zielführende Alternative zum Besserwissen (1)

Von allen Versuchen einen entspannten Umgang mit der Unwissenheit zu finden scheint mir die Herangehensweise der modernen Wissenschaft, im besonderen der Naturwissenschaften der zielführendsten zu sein. Besonders dann, wenn ein Ziel die lebensbejahende Reintegration des Menschen in ein wechselwirkendes und hochkomplexes Ökosystem ist. Auf diesem Weg ist ein Begreifen um geologische wie kosmologische, chemische und biologische Zusammenhänge noch nie so verfügbar gewesen wie in den letzten Jahrzehnten. Gerade wiel das wissenschaftliche Sehen nicht entlang der traditionellen Wahrnehmungsreihe Licht – Netzhaut – Hirn verläuft. Stattdessen nutzt Wissenschaft heute die bestehenden technischen Möglichkeiten, gemachte Theorien jederzeit und überall in der Realität überprüfen zu können, und somit Irrtümer weitestgehend auszuschließen. Empirik und das Experiment sind, ganz anders als der individuelle Verstand, weitestgehend integer. Angewandte Wissenschaft liefert uns jederzeit und überall den Bewies; Die Kohlenstoffeinheit Mensch kann mittlerweile die kleinsten aller Teilchen/Wellen verstehen und somit beherrschen, oder eine weitreichende Karte des gesamten Universums erstellen.

…ja aber…

„Warum sollen wir nicht irgendwann doch zu anderen bewohnbaren Planeten aufbrechen können?“
„Klimawandel gab es doch immer wieder auf der Erde, warum sollen ausgerechnet jetzt wir Menschen daran schuld sein. Woher wollen wir überhaupt wissen, dass wir verantwortlich sind für all die dramatischen Veränderungen?“ Und überhaupt, „was hab ich damit zu tun bei 7,35 Milliarden Menschen pro Erde?“
„Woher wollen wir denn wissen, ob Leben immer auf Kohlenstoffbasis aufgebaut ist. Viellicht gibt’s es ja doch Bewohner auf der Venus.“
„Sind Arbeitsplätze und Wettbewerbsfähigkeit nicht wichtiger als Umweltbedenken, z.B. bei der Planung von Kohle- oder Windkraftwerken?“
Ein altbekanntes Potpourie. Der Infinitive Regress als gut geschmierter Motor im steten Diskussionskarussell. Sachlichkeit wird durch systematische Beschleunigung dabei regelmäßig aus dem Kontext geschleudert. Der AFDler Georg Pazderski spricht sich gegen Statistiken und Recherche aus. „Es geht auch darum was der Bürger empfindet. Das was man fühlt ist auch Realität.“ Wenn Emanuel Kant von der „Selbstverschuldeten Unmündigkeit“ spricht, scheint mir die Sichtweise eines Herrn Pazderski ein leuchtendes Beispiel zu sein.

Strukturwissenschaften wie Mathematik und eine Vernetzung und Verfügbarkeit quasi aller existierender Informationen ermöglichen uns vor Jahren und Jahrhunderten gemachte Theorien, punktgenau und stets aufs neue an der Realität scheitern zu lassen. Scheitern sie nicht, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass etwas dran ist. 

Daher wissen wir, selbst wenn wir uns mit annähernd Lichtgeschwindigkeit durch das Weltall bewegen könnten, bräuchten wir 100000tausende von Jahren um das nächste Sonnensystem zu erreichen.
daher wissen wir, es ist unbestreitbar, dass wir es sind die den schnellsten Klimawandel seit 25Millionen Jahren zu verantworten haben. Wir wissen daher, dass die Amerikaner auf dem Mond wahren und Ausschwitzt ein Massenvernichtungslager war. Denn in diesem Universum entscheidet noch immer die Realität darüber was Realität ist. Nicht das Empfinden der Bürger.

zielführende Alternativen zum Besserwissen 2

Anders als die meisten Individuen hat Wissenschaft nicht den Anspruch Recht zu haben, oder eine unumstößliche Wahrheit zu postulieren. Sie überprüft lediglich die Wirklichkeit mithilfe aller zur Verfügung stehender Mittel und ohne Unterlass darauf, welche Vermutung von allen formulierbaren Möglichkeiten wohl am wenigsten falsch ist. Diese Herangehensweise ist nicht nur nicht fehlerfrei, sie macht den möglichen Fehler zum festen Verbündeten. Der Irrtum ist maßgebende Koordinate. Ein recht nüchterner und bescheidener Weg der sich auf das falsifizieren wieder dem verifizieren verlagert hat. Konsequent begangen, führt er uns mit Voyager 1 über den Rand unseres Sonnensystems tatsächlich in den interstellaren Raum und auf den Grund des Marianengrabens. Wir expandieren unsere modifizierten Sinne in’s Sonnensystem und vermessen den Weltraum mit automatisierten Sonden Superteleskopen und Robotern. Jeden Menschen der es sich leisten kann verfügt über quantenmechanisch gesteuerte Mikroelektronik mit Herz- und Bitraten die sich zyklisch zu immer neuen Rekorden aufschaukeln. Der Weg der angewandten Wissenschaft ist, allein mit Blick auf die Errungenschaften innerhalb der letzten 200 Jahre, der erfolgversprechendste den wir Menschen gehen können. Er kann zu großen Frieden und zu verheerenden Kriegen führen. Würden wir, dem ihm innewohnenden unbestechlichen Ratio konsequent folgen, währen dann ideelle und emotional Konflikte bald Vergangenheit?

Goyas Hoffnung

Wir nutzen mit schöner Selbstverständlich unzählige Bestätigungen, dass Heisenberg, Einstein, Kopernikus, Edison, und ungezählte andere wissenschaftliche Pioniere auf der richtigen Spur wahren. Und doch werden diese tagtäglichen Bestätigungen einer quantifizierten, universell vernetzten, energetischen, physikalisch nachvollziehbaren Welt als banale Nebensächlichkeiten wahrgenommen, die mit der Beschaffenheit der Existenz an sich nur wenig zu tun haben. Warum ist das so? Allein die Existenz eines Smartphones schiebt alle bestehenden religiösen Schöpfungsmythen mit einem Wisch über den Touchscreen zumindest in Frage.
Ist es die Angst, das Hermeneutik, Philosophie, Mythologie, Rituale oder Religion an Wehrt verlieren? Das wir zu gefühllosen, Binäreinheiten sterilisiert werden, die am Ende jeden Sinn für Schönheit, Schrecken und Humor verlieren?
Ich vermute derartige Ängste sind vorgeschoben. Sie sind Teil unserer Strategie die Anfangs erwähnte holistische Denkstruktur zu bewahren, die uns Nachts ruhig schlafen lässt. Denn auch objektiv betrachtet, sind Gefühle, abstraktes Denken, sind unsere Phantasie, Moral, Ethik, Angst und Hoffnung hochkomplexe biochemische Prozesse jedweder Kohlenstoffeinheit auf dem Planeten. Vernünftiger werden heißt nicht auch Gefühlskalt werden. Im Gegenteil. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Das Erwachend der Vernunft indes macht Ungeheuer ungeboren.

Evolutionär betrachten bedeuten Jahrzehnte so gut wie nichts. Wir stehen also vermutlich noch immer am Anfang einer evolutionären Versuchsanordnung in der unzählige Potentiale schlummern, destruktive wie konstruktive. Mich beschleicht allerdings der Gedanke, dass das Model Homo Sapiens Sapiens nach knapp Zwanzigtausend Jahren zumindest einen Pfad entdeckt hat, der uns aus der andauernden Krise führen könnte. Ob wir ihn gehen werden steht in den Sternen. Das Erwachen der Vernunft indes wird vorstellbar.

DER TRAUM VOM NICHTFLIEGEN

Nichts ist mehr einfach. Nichts bleibt lange unbestritten, oder eindeutig in diesen Tagen. Alles steht in Frage, was wir Menschen jemals erreicht haben. 

Vor vier Tagen erklärte der ipcc Weltklimarat, dass sich die gesamte Menschheit von ihrem Ernährungskonzept verabschieden muß, sonst drohe uns der Untergang. Vor zwei Tagen erfuhren wir, dass in den Wäldern der Welt über die Hälfte der Tiere, die dort vor 30 Jahren noch lebten verschwunden sind. Es ist wahrscheinlich, dass die Taktung der Hiobsbotschaften in nächster Zeit noch zunehmen wird. 

Ambivalenzen jagen einander. Der Hauptbaustoff des Bootes mit dem sich Greta Thunberg nun über den Atlantik aufmacht ist Karbonhaltig und bei hohem Energieaufwand gefertigt worden. So manche Schüler*innen, die für Fridays for Future auf die Straße gehen, schlagen sich anschließend bei MC Donald den Magen voll und lassen sich von Montag bis Donnerstag in den SUV’s ihrer Eltern zur Schule kutschieren (heisst es). Wenn wir alle keine Mangos und kein Soja mehr essen würden, um Schwerölbetriebene Containerschiffe zu reduzieren, würden die armen Soja- und Mangobauern und Bäuerinnen in den armen südlichen Ländern noch ärmer werden.

Jetzt wird von vielen Medien, die von ganzseitigen Anzeigen für die SUV’s leben, mit denen die Eltern der FFF-Schüler*innen ihre inkonsequenten Bälger zur Schule hofieren, die dann von besagten Medien deswegen kritisiert werden, kritisiert, dass Greta Thunbergs Entscheidung mit dem Boot statt „ganz normal mit dem Flieger“ zur Klimakonferenz nach New York aufzubrechen, doch ein wenig übertrieben sei. 

Ist das noch verhältnismäßig?

  • Heißt das, dass wir jetzt wieder ins 18 Jahrhundert zurückkehren müssen?
  • Macht sie etwas derart Radikales nicht eher zum weltfremden Superstar?
  • Wie käme sie denn ohne so ein Hightech-Segelschnellbot in 14 Tagen über den Atlantik?
  • Währen nicht zwei Flugtickets für Sie und Papa verzeihlich gewesen, bei all dem was sie schon tolles für die Umwelt geleistet hat.

Ich kenne Greta Thunberg und ihren Papa nicht. Aber ich halte das was diese beiden sagen für nachvollziehbar und integer. Sie sagt, jede ihrer Handlungen die direkt, oder indirekt die Erderhitzung fördere, bereite ihr seelische Schmerzen. Insofern ist ihre Entscheidung als selbst ernannte und von sehr vielen anerkannte Vertreterin aktiven Klimaschutzes, zur großen Klimakonferenz mit einem Segelschiff zu fahren, in erster Linie konsequent. 

Ob sie nun von Klimaleugner*innen deswegen ausgelacht wird, oder weil sie ausnahmsweise mit dem Flugzeug geflogen währe verhöhnt, scheint sie da wenig zu interssieren. Zum Star wurde sie längst von uns gemacht mit allen Nebeneffekten, die so eine Beförderung mit sich bringt. Aus diesem Grund wird ohnehin alles was sie tut oder lässt von aller Welt in die mediale Pro- und Kontrasuppe gerührt. Greta Thunberg erklärt uns nicht was falsch und richtig ist, sie verweist entspannt auf die Wissenschaft. Und der Hinweis es nach tausenden von Jahren grenzenloser Selbstbezogenheit und Impulsivität mal mit dem Verstand zu versuchen, scheint mir nicht der abwegigste. 

Interessant, auch die Reflexe mit denen erneut auf die Entscheidungen dieses bemerkenswerten Mädchens reagiert wird. 

  • Ein bisschen Fliegen, noch dazu mit gutem Grund ist doch nicht so tragisch… 
  • Mann kann alles übertreiben…
  • Müssen wir jetzt alle wieder mit der Pferdekutsche in die Arbeit fahren…

Das was viele scheinbar um jeden Preis vermeiden wollen, ist die unausweichliche Komplexität, die wir Menschen doch selbst geschaffen haben. So gern wir es auch hätten, wir werden keine einfachen Antworten finden. Stattdessen ist alles was jeder Mensch tut oder lässt, ob Star, ob reich, ob westlicher Standard, oder armer Mangobauer, ob Populist*in, oder Aktivist*in, ob regierend oder konsumierend, immer auch zweierlei. Zum einen aus mehr oder weniger Verantwortung für den Planeten generiert, zum anderen ein Statement.

Solange ich in diesen Zeiten noch nach einfachen Antworten verlange, oder solche anzubieten habe, ist es kaum möglich den Prozess der Wandlung den wir jetzt beschreiten müssen, mitzugehen. Geschweige denn mitzugestalten. So ist es ein hoffnungsvolles Zeichen, wenn ein Mensch, ein Kind indes, unbeirrt von reflexiven Unkenrufen ihren eignen Antworten auf unser aller Fragen vertraut. Zumal diese meines Erachtens die zielführenden sind, wenn es darum geht die Katastrophe abzumildern die wir Menschen angerichtet haben. 

Was wir gezeigt bekommen ist; Da ist ein Mensch der alles in seiner Macht stehende tut um jede weitere Belastung des Planeten zu vermeiden. Er nimmt dafür alle notwendigen Strapazen in kauf. Geht dafür große Risiken ein. Gibt alles auf was er davor für wichtig hielt, für unverzichtbar. Stellt alles hintan um neue Wege zu finden zu Leben ohne alles zu zerstören. Statt Menschen, die dieser Suche ernsthaft folgen, zu maßregeln, zu bevormunden und auszulachen, sollten vermutlich die allermeisten von uns lieber mal ganz still sein.

ERZÄHLEN

Chiamanda Adichie erzählt von den Gefahren und den Chancen des Geschichtenerzählers. Diese wohl älteste aller Kulturtechniken der Menschen, Mutterboden für Glaube, Religion, Verschwörungstheorien und schöpferischer Imagination, schuf ganze Kulturen und verwüstete ebensolche.

Die eine Geschichte, die eine Wahrheit, lockt Leid, Verzweiflung und Konflikte. Die Diversität der Erzählungen, der Perspektiven der Geschichten, lockt Frieden und Gelassenheit. Die finale Revolution, die unzähligen Formeln wie, wo etwas hinführt, den einen richtigen Glauben, die eine gute Idee… haben wir alles tausende von Jahren ausprobiert. Neu währe die diverse Lesart der Dinge. Neu währe, statt auf einzelne Thesen zu setzen auf die unbeschreibliche Vielseitigkeit der Realität zu bauen. Noch nie wahren die Möglichkeiten dafür so ideal. Auch wenn uns der Abschied von den einen Geschichten schwer fallen würde, an die Jede und Jeder von uns festhält; Ich denke es würde sich lohnen. Wir müßten nicht weiter warten oder suchen, wenn wir endlich begriffen das alles längst ist.

MYFEST

früher, als das MyFest noch 1.Mai-Demo hieß, als effektvoll die Autos brannten und keine Fensterscheibe hielt die nicht mit Brettern vernagelt wurde, schien mir der Geist von la grande dame la révolution noch gesund, unbestechlich und wild. Dann amalgamisierten 2003 die verräterischen VeranstalterInnen mit Herrn Dieter Glietsch dem neuen Berliner Polizeipräsidenten (der wenigstens drei Jahre später auf der 1.Mai Demo ordentlich dafür verprügelt wurde). Gemeinsam lockten sie unzählige Zauberclowns, Köftebräter, 20 Musikbands pro Straßenzeile und buntes Familienprogramm ins Epizentrum 36, um die Bambulanten beim Stören zu stören. Mir schien das damalig ein perfider Missbrauch der Zivilgesellschaft. Bunt bemalte Picknickfamilien ließen sich zu fröhlichen Schutzschildern gegen aggressive, prodemokratische Reflex verstricken. Zudem schienen mir Straßenkämpfe und brennenden Autos um einiges fotogener, als die, sich friedlich durch die Monsterparty quetschenden Massen.

Nach ein paar Jahren habe ich dann zwar den Sinn des Deeskalationskonzept widerwillig anerkannt (was auch daran lag, dass die hellgrünen Umhänger des neuen ungepanzerten Deeskalationsteams der Polizei so schön mit dem frischen Frühlüngsgrün der Bäume und Büschen korrespondierte – auch sehr fotogen http://www.fotocommunity.de/photo/gruenzeug-dion-m-beeck/13330575).

Das MyFest machte mir trotzdem weniger „Spaß“ als das destruktive Chaos die Jahre davor. Es roch einfach nicht mehr nach Tränengas und notwendigen Protest, sondern nach verbrannter Köfte und Kotze. Geht das überhaupt? Kontrollierte Anachie?

Dieses mäkelte ich gestern in trauter WG vor mich hin, als meine Mitbewohnerin Cornelia eine Lanze brach für aktuellen Wahnsinn. – So etwas gibt’s in keiner anderen Stadt. Typisches Kreuzberger Feeling mehrfach multipliziert. Überall wird gebraten und getanzt und weit und breit kein Ordnungsamt das irgendwelche Lizenzen sehen will. Überall Musik, einige richtig gut. Ein Taumel aus irgendwie politischer wie massenweise guter Laune. Noch dazu einer der wenigen nicht christlichen Feiertage. So viel Menschen, auf den Straßen. Die Polizei, geschult entspannt. Die Wasserwerfer für alle Fälle epiperipher vor der Hasenheide geparkt. Das Motto ist einmal mehr in dieser Stadt – ALLES DARF SEIN – Besonders was nicht seihen darf. Und über allem schwebt nach wie vor, stolz und subversiv la grande dame la révolution, wenn auch tendenziell in Feierlaune (na ja, nicht ganz so, aber ähnlich sagte sie’s) –

Dies alles habe ich soeben selbstisch überprüft und möchte Cornelia hiermit beipflichten. Es sind weniger Zauberclowns. Es stinkt nach Köfte und Kotze, der Görli ist ein Flaschenmeer, in dem die Masse rhythmisch wabert. Die Flaschensammler die das nutzen, können danach direkt in’n Urlaub fliegen. Den werden sie auch nötig haben, nach tagelangen warten in den Schlangen vor den Getränkepfandautomaten. Die Musik ist allerorts erstaunlich gut. Die Laune ist politisch und bestens, die PolizistInnen sexy und freundlich in schicker schwarzer Panzerkäfertracht. Und mittendurch walzt sich auf einmal unangemeldete Demo durch die Party. Unbehelligt von der „Ordnung“ erscheint sie Tausenmenschenstark aus bengalischen Rauschzauber und behauptet, organisch wachsend die Nauny- und die Wienerstr als „unser“ Territorium. Rotschwarze Fahnen werden geschwenkt, Pappschilder und Sprechchöre warnen vor Islamophobie, Homophobie, vor dem KA KA Kapitalismus, und den Nazis. Autos haben wenig Platz und die Scheiben bleiben auch ohne Bretterschutz ganz und sicher ist, daß nichts und niemand sicher ist. Schon gar nicht hier. Alleine dies derart zu feiern ist, in einer Welt der Rückwertsfans und Festhaltefreaks, schon ziemlich berlin.

SÜSS

 

uebergewicht-schlaganfall

3 Sudanesen am Bodensee

während eines FSJ-Seminars saßen in einer Kleingruppe zwei Jugendliche aus Baden-Württemberg ein junger Mann aus dem Sudan und ich zusammen und unterhielten uns über die Dinge in unsrer Kultur die uns geprägt hatten. Der schüchterne Junge aus dem Sudan sprach davon, dass sein Vater starb als er zwölf war. „Woran starb dein Vater?“ wollte der Junge aus Baden Württemberg wissen, der sich gerade ganz nebenbei seine Insolinspritze für das nahe Abendessen aufzog. Der junge sudanesische Geflüchtete nannte ein Wort das erst keiner von uns verstand. Nach drei Versuchen verstanden wir es endlich. „An Zucker“ Er lächelte unsicher. Traute sich dann aber ebenfalls eine Frage zu stellen. Für was denn die Spritze sei, wollte er wissen.

Am Wochenende, zwischen den beiden Seminaren in Bawü, durfte ich wie so, oft im Haus einer befreundeten Familie verweilen. Ich begann der Hausherrin beseelt von den investigativen interkulturellen Begegnungen zu erzählen die meine Arbeit mit sich brachte. Sie unterbrach mich um mir zu erklärten, dass die (ich nehme an sie meinte die Sudanesen oder gar die Afrikaner…) aber auch ständig und überall Zucker essen würden…

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-02/hungersnot-somalia-jemen-suedsudan-nigeria-lebensmittel-klima/seite-2