Die Mönchin
Von Dion M. Beeck
Anton kniff die Augen hinter der Sonnenbrille zusammen. Sonnenaufgang. Das Meer der Nacht aus dem sie aufstiegen, klebte an ihm wie zäher warmer Teer. In kontinuierliches Rauschen aus Fahrtwind, seinem und dem Atmen seiner Kinder, dem „Roten Rauschen“, so nannten es Sybille, mischte sich kaum hörbares Summen. Der beunruhigende Klang eines daumennagelgroßen, müden Fliegenphantoms hinter den Armaturen. Wann hatte das angefangen? Vor ein paar Stunden, ein paar Tagen? Für gewöhnlich wehte die Brennstoffzelle unter der Haube des Mirai nicht lauter als ein sachter Wind.
Anton lugte nach rechts. Möglichst nebenbei. Möglichst unbesorgt. Auf dem Beifahrersitz schlief Ari, versunken in ihrer grauen Decke, wie die schlummernde Blüte in Antik, versteinerter Koralle. Die dunkelhaarige Zaubernixe ruhte sanft, der Kopf sacht treibend in einem Meer aus schwarzen Haarwellen, die sich in den geschwungenen Muschelrand ergossen.
Seine schöne Tochter. Er erlaubte, mit einer Berührung seines Fingers auf dem Pad, dem Wagen die Durchlässigkeit der Scheiben dem externen Lichtpegel anzupassen. Sofort wurde es dunkler. Draußen riss in Zeitlupe, nahe gelegener Fixstern, das gähnende Tor zur Hölle in den Himmel auf.
Er hoffte, das Erwachen der Zaubernixe ein wenig hinauszuzögern. Er war nicht erpicht darauf, die Wandlung in die Donnerhexe zu erleben, in die sich die schlafende Sanftmut dann verwandeln würde. Er grinste von einem Ohr zum anderen.
Der Mirai glitt durch die karge Hochebene, gleich einem, durch mächtigen Zauber, gebremstes Photon. Mit jedem Kilometer wuchsen die Felsen höher, wurden die wenigen Büsche kleiner. Bis die hartnäckigste Knochenflechte keinen Partikel Wasser mehr in der Erde fand und zu Staub zerfiel.
Es hieß, das kollabierende Wettersystem zwischen dem Toten und dem Kaspischen Meer, sei für den grünen Dunst verantwortlich. Klebriger Pesthauch, der die Hitze und die wolkennahen Schadstoffschlieren in ein extrem toxisches Amalgam wandelte.
Die Sauerstoffvorräte wurden knapp nach der letzten Panne bei Beslan.
Die Methanwehrte dort hatten sie gezwungen, während des Reebots des Mirais die Masken zu tragen. Zwei Stunden Wartezeit.
Er hockte mit seinen Kindern auf schorfigen Felsen, komplett verschollen zwischen Wüsten und Bergen, ländergroß in alle Richtungen des Himmels.
Der Gedanke, dass er sich und seine Familie, im Zuge der Umsetzung der dümmsten Idee aller Zeiten, geradewegs in Dantes Inferno manövriert hatte, war ihm zu diesem Zeitpunkt schon recht vertraut. Nachdem die Warnanzeige an Aris Sauerstoffversorgung von Grün auf Gelb switchte, drohte ihn dieser Gedanke vollends zu lähmen. Kurz vor Einsätzen des Blankes Wahnsinns schickte ihm der Wagen die erlösende Nachricht.
>Systemausfall korrigiert – Fahrzeug betriebsbereit<. Der Geschmack von Offenbarung. Wie ein kühler Schluck sauberen Wassers aus heiliger Quelle.
„Es kann weiter gehen“.
Seine Stimme versuchte den Kindern Zuversicht zu verkaufen. An der Art, wie sie ihn ansahen, wurde deutlich, der faule Handel war gescheitert.
Sie alle drei wussten, das Selbstreparatursystem des Mirai war am Ende.
Sie hatten ihm das Beste mitgegeben. Seiner Suche. Ihrer Hoffnung. Der Wagen war so vollgestopft mit Technik und Innovation, dass er sich die ersten paar 1000 Kilometer wie Jams Bond persönlich fühlte. Oder besser, der Bond Boy auf dem Beifahrersitz. Denn bis Tschernobyl fuhr Sibylle die meiste Zeit.
Ihr dunkler Stoppelhaarschnitt war die Krone der zielverwobenen Königin. Die Augen zu leichten Schlitzen verengt im, sanft kantigem Gesicht mit immer wieder kreisendem schmalen Unterkiefer. Ihre nachtdunkle Haut, ihre seltsamen grünen Augen, ihre alles berührende Schönheit. Manchmal sah sie ihn an. Sie ließ den Mirai nie lange alleine fahren. Zu grosses Risiko. Tausende deffekte oder tote Satelliten. Überalterte Technik, die von Weltraumschrott zerlegt, in vereisende Schaltkreise verging.
„Wir werde etwas finden“ flüsterte sie, um die Kinder auf der Rückbank nicht zu wecken. Er sah aus dem Seitenfenster die vielen grünen Bäume hinter der Sperrzone an, wie sich die Abenddämmerung darüber legte, während er über ihre Worte nachdachte. Verheißung oder Frage?
Er wollte sie küssen. Er war zu müde. Er blickte aus dem Fenster und nickte. Und glaubte nicht daran.
„Er bleibt gleich wieder stehen“ knurrte Ari neben ihm. Er sah nur die Decke. Die graue Korallenstruktur, die über ihren Kopf wuchs. Aus der ihm abgewandten Seite der bizarren Mönchshaube sah sie müde aus dem Seitenfenster. Ihre Pupillen, der exakte Mittelwert der Augenfarben ihrer Eltern, dunkelgrünes Blinken. Rechtslinks, Rechtslinks, Rechtslinks. Was Menschenaugen eben machen, wenn sie während der Fahrt versuchen vorbeiziehendes in Sekundenbruchteilen zu fixieren. Ausreichend Zeit zu gewinnen, um zu begreifen, wie der Millisekunden kurze Lichtreiz zu verifizieren sei. Und aus der absurden Mühe, alles zu begreifen, wird statt Begreifen ein Fluss.
Aris Bewusstsein trieb entkoppelt nebst zuckenden Iren in zeitgelöster Meditation in rostbrauner Felswelt. Sie lauschte dem Knistern der Steine. Thermodynamische Effekte machten die Moleküle in deren Innern tanzen. Die weißlichen digitalen Lettern der Cockpituhr trieben die Sekunden voran. Eine um die andere. Vor den Sekunden behauptete die Uhr 7:58:. Die Außentemperatur wurde zwei Meldungen weiter mit 34,14 Grad angegeben.
Die Anzeigen erloschen, der Wagen rollte aus, ihr Vater schloss die Augen.
„Hab ich doch gesagt“ hörte er sie über das COM fast aus Versehen ausatmen.
Tränen hinter dem Glas der Schutzmaske machten nichts einfacher. Anton wollte nicht weinen. Er dachte an die desaströsen Effekte die Tränen im Weltraum haben konnten. In hermetischen Systemen wuchsen, die in der Schwerelosigkeit zu schwebenden Riesentropfen an und dem Astronauten der sie weint, droht, in ihnen zu ertrinken.
Doch das war nicht der Weltraum. Nur ein Teil von ihm. Der Kaukasus. Unter den Umständen und dem richtigen Licht musste er nicht befürchten, dass Ari und Ben seine Tränen bemerkten. Anton öffnete die Hintertür des Wagens und reichte seinem Sohn die Hand. Der Handschuh schwebte über dem Kind ähnlich einem lebendigen Haken, den es zu greifen galt.
„Ben! Wir ziehen dir den Schutzanzug an. Wir machen einen Spaziergang.“ Durch den Helm klang die Stimme des Vaters wie Unterwasser. Stieg auf aus einem Aquarium, gefüllt mit Tränen. Die rechte Hand des Jungen schien zu salutieren, was in Wahrheit nur seine Augen schützten sollte. Die Sonne umfloss den Vater wie gleißende Flüssigkeit, während der sich zu ihm über die Rückbank beugte und Bens freie Hand in die seine einlud.
„Spaziergang in den Tod!“ konstatierte Ari drei bis vier Meter hinter Anton, der seinem Sohn aus dem Wagen half. Schnell in den Schutzanzug.
Er zwinkerte sich, so gut es ging, den Blick trocken um das Notsystem über das Handy zu aktivieren. Bens Griff in seinem Handschuh war schwach. Müde, ängstlich. Seine Vaterhand spielte Stärke, Zuversicht. Die andere zündete die Leuchtraketen aus dem Mirai. Eine Rote eine Grüne eine Blaue. Der pompöse Staatsakt eines dreiköpfigen Volkes. Die aufsteigenden Landesfarben meldeten ihren Anspruch auf dieses staubtrockene Land an. Dem Land und dem Weltraum, war es dann doch ein bisschen egal, ob das jemand wahrnahm.
„Wir gehen nach Südost.“ Mehr fiel Anton nicht ein. Er sah sich zu Ari um. Das Glas ihrer Maske war beschlagen. So musste er ihren Blick nicht sehen.
„Niemand wird kommen.“ Hörte er sie ausatmen und ging mit seinen Kindern bei über 40 Grad Celsius, Temperatur schnell ansteigend, tiefer in den Kaukasus.
Währen die meisten Menschen in erster Linie rational denkende Wesen, die sich an Evidenzen und physikalischen Markern orientierten, hätten wir uns, vermutlich zwei Weltkriege, die menschengemachten Klimakatastrophe, zahllose selbst verschuldete Krisen und aufblasbare Trockenhauben sparen können. Nur währen wir dann auch keine Menschen. All-inclus Geschöpfe wie wir, so sinnierte Anton, während er mit seinem kleinen Sohn an der Hand durch karges Schotterfeld stiefelte, hangeln sich dummklug von Überraschung zu Überraschung, von Untergang zu Neuanfang.
Gott, es war seine Idee gewesen. Er hatte alle überzeugt. Sibylle, Ari, die Kolleginnen und Kollegen im inneren Kreis des Science Konzil. Sie sagten, die Entfernung ist zu groß. Das Klima für einen Großteil der Strecke zu toxisch. Die Daten lückenhaft. Aber er zwang ihnen denselben Glauben auf, den er sich aufzwang. Den Glauben daran, dass es da draußen im Kaukasus etwas gab. Die Daten mochten lückenhaft sein, doch sie wahren vielversprechend.
Am Ende des Tages oder zu Beginn dieses Tages, der vielleicht ihr letzter werden würde, spielten Daten keine Rolle. Wie Billiarden Menschen vor ihm entlarvte er, zu spät versteht sich, seine Hoffnung als rein subjektive emotionale Mixtur. Hoffnung angerührt mit Agonie, Sturheit und Sehnsucht. Die Sehnsucht nach dem Licht am Ende des Tunnels. Doch stattdessen kommt ihnen inmitten des Tunnels ein Zug entgegen. Überraschung! Nur leider keine gute.
Aus der Vogelperspektive, einer jener Begriffe, die in Ermangelung an Vögeln in Vergessenheit geriet, stiefelten drei Gestalten, groß, kleiner und klein, durch nacktes Gestein, Felsen und Berge, von beschvioleten Giftdunst umwabert, in Richtung Irgendwo. Und da, einem ungeschriebenen kosmischen Gesetz zu Folge, auf 10 schlechte Überraschungen meist eine gute folgte, schälte sich aus dem dichten Dunstbrei des Horizontes, dem Vater und seinen Kindern ein Fluggerät in den Blick.
Ben sah es zuerst. Zur Marionette verzaubert, bewegte sich allein sein rechter Arm gen Himmel. Der Zeigefinger des Schutzhandschuhs wippte stumm in der Giftluft das Unbegreifliche fixierend. Dann blieben sie stehen. Aller drei. Sahen es kommen. Die vermeintliche Reflexion der aufgehenden Sonne, ein fehlschimmernder Fleck in ca. 300 Meter Höhe, verdichtete sich schnell zu etwas Realem. Aus den Schlieren wuchs ein Zeppelin. Kleinwüchsiges schwebendes Vehikel, dessen sechs bis acht Rotoren den Giftdunst in farbige Spiralwirbel drehten. Detail um Detail taute aus gerinnender Unschärfe – ein Luftschiff. Graubraun geblähter Zylinder, untere dem kleiner, doch ähnlich die Zigarrenform, metallische Gondel. >>seht ihr das auch<< – der ungehörte Gedankenchor der drei.
„Was ist das?“ löste sich Bens Stimme, atemlos, in die Funkstille.
Anton antwortete „Etwas – das Menschen gebaut haben“
„Sehen die uns?“ Von der Funkverzerrung unbeeindruckt, quollen mit Aris Frage auch all ihre Angst und ihre Hoffnung aus den Hörern in die Helmen der Familie.
Anton antwortete „Das müssen sie!“ Der kosmische Marionettenspieler hob Antons Arme über dessen Kopf. Ließ sie wie Flügel wedeln. Setzte ein Bein vor das andere. Der kleine Mann im fahlweißen Schutzanzug neben ihm wurde vom Wedelvirus infiziert und bewegte sich ebenfalls zur spontan vereinbarten Choreografie.
Aus Sicht des Puppenspielers gingen da zwei Astronauten durch karge Planetenoberfläche, armrudernd, auf ein bizarres Fluggerät zu. Sekunden später knatterte der ignoranter Aufblassaurier dann über die drei hinweg in Richtung Hoffnungslosigkeit. Der kosmische Marionettengott besaß Sinn für Dramatik. So drehte er, in angemessener Langsamkeit, ein echter Puppenpielerkunstgriff, den Kopf der Astronautin.
Ari sah sich um. Sie schaute dem Luftschiff nach. Sie vernahm, trotz des Helms, sein elektrisches Schnurren. „Die fliegen weiter…“
Ben und Anton hörten sie nur allzu deutlich. Sie standen einige Meter entfernt, erst reglos, dann hasteten sie wieder los. Wie gehabt, armrudernd wie flugstartende Albatrosse. Diesmal in die andere Richtung.
Ari sagte es noch einmal, weil sie sich selbst nicht glauben wollte.
„Die fliegen einfach weiter.“ Dieses Mal gelang es dem knisternden Funk die Hoffnung rauszufiltern. Die Albatrosse rannten links und rechts an ihr vorbei, dem Luftschiff hinterdrein. Minuten später war es wieder nur ein Punkt im Wolkendunst. Diesmal allerdings ein strahlender, die aufgehende Sonne reflektierender, schrumpfender Stern.
Ben kniete keuchend am Boden. Er sah, wie sein Vater einige Meter vor ihm, ebenfalls nicht weiter laufen konnte.
„D… die die“ nur keuchen gelang Anton, nicht reden.
„Die Sauerstoffversorgung ist am Limit“, half ihm Ari den Satz zu beenden. „Ihr Atmet zu schnell. >Auf keinen Fall mit dem Anzug rumtoben<. Das wahren deine Worte.“ Sie wechselte in den Ätzmodus. Der ätze alles weg, was wehtat. Jeden Verlust. Unter dem Schmerz und der Angst, brodelte die Wut. Die ätzte sie frei.
„Als ob es das erste ist was wir machen würden, wenn wir diese Scheißnotfallanzüge anziehen müssen. Wir toben rum. Jetzt tobst du rum, wie ein Irrer. Weil du nie, nie, nie, nie nie, nie, begreifen willst wann etwas vorbei…“
„Die, die kommen zurück.“ Sagte ihr Vater.
Anton sah es, Ben sah es und Ari sah es auch durch die Spucketropfen an der Innenseite ihres Visiers. Der Stern, er wuchs.
Anton war der Letzte. Er nahm die Metallleiter, die die ominöse Besatzung des fliegenden Wunders ausgefahren hatten. Seine Erwartungen, diffus. Aber vielleicht war der Teil seines Lebens, schon vor Tagen, vor Wochen unbemerkt zu Grabe getragen worden, der es gewohnt war, sich an einem Geländer aus Antizipationen entlang zu bewegen.
Einer Gruppe zu begegnen, die über ausreichend Ressourcen und Energie verfügten um aus großen Mengen gasdichter Stoffe, Bambus, Leichtmetallen und Unmengen bunter Fähnchen, ein flugtüchtiges Luftschiff zu bauen, sprengte alle seine Erwartungen. Und schon gar nicht hätte er erwartet, zu sehen, was er sah, als er die letzten Leitersprossen nahm und in die Eingangsluke kletterte.
Kinder. Mädchen und Jungen, von 8, bis 18 Jahren, saßen verstreut in geräumiger Kabine in Kissen und auf Matten, die Gesichter neugierig bis misstrauisch auf die drei Neuankömmlinge gerichtet. Ben thronte schon in Heimkehrerposse zwischen zwei älteren Jungen, die an seinem Schutzanzug rumfuhrwerkten. Ari strahlte etwas anderes aus, wie sie so in der Gondel stand und den Blick durch die großen Fenster richtete, die einen Großteil der oberen Hälfte der Gondel ausmachte. Prächtig geeignet um eine ausgiebige Aussicht über die Weite der zerklüfteten Hochebene zu gewinnen, aus der ringsum braunrote Berge wuchsen. Die schlierigen, toxischen Schichten, schwerer Gasverbindungen, zogen vor allem nahe den Flechten, denen sie entstiegen, ihre Bahnen. Wenige Meter über der Oberfläche verflüchtigten sie sich. Gaben den Blick frei auf das Kaukasusgebirge. Ari strahlte aus, was sie meistens aufstrahlte. Seit dem Tod ihrer Mutter. Unnahbarkeit. Ein Odem, der von allen gerochen wurde. Nicht ein Kind, welches ihr zu nahe kam.
Ein Mädchen mit rotem Gesicht und Urwaldfrisur, um die 15, half Anton in die Gondel. Dann knallte sie die Unterseite ihrer Faust auf einen großen, ebenfalls roten Knopf in der Metallwand und das hydraulischen Gestänge schloss die Luke. Sie stellte sich vor Anton, der zu allem wurde, was dieser Augenblick mit ihm machte. Irgendwer öffnete von hinten die Halterung seines Helms. Er ließ es geschehen. Muskuläre Gesichtsverwirrung aus Dankbarkeit, Scham, Verwirrung, Freude, Angst und Liebe wurde sichtbar.
Dem Mädchen rutschte ungewollt ein Grinsen über das rundliche wachsame Gesicht. Der neue Passagier hatte offenbar nicht alle Tassen im Schrank.
„Danke, dass, danke für…“ der Stoppelbart suchte nach Ausdruck, der Mund nach Worten. Ihr Kopf zuckte in Richtung der Spitze der Gondel. „Dank ihm.“ Knappe Erklärung, ein Schritt zur Seite. Er folgte ihrer Geste. Sah Ari, die ohne Helm da stand und ihn ansah. War da ein Lächeln? Ari lächelte! Große schmutzige Fenster, die die gesamte Kabine kränzten, wandelten Ari in lächelnde Endzeitmadonna. Um sie sank die Welt von ihnen fort. Sie stiegen wieder. Flogen in die Richtung zurück, aus der der Zeppelin gekommen war.
Ganz vorn, im Cockpit, sass der, dem er zu danken hatte. Dem kleinen Mann am Steuerrad stand ein breites Lächeln im grauen Bart. Er wandte sich für einen Moment von seinen, gotisch anmutende Instrumenten ab, zu ihnen um, und winkte mit einer Hand die Ankömmlinge zu sich.
„Ein Traum!“ Die drei Schutzanzüge ruhten jetzt, in ordentliche Bündel gelegt nebeneinander auf einer Metallkiste am Rand der Gondel. Nur einer der Helme tobte mit kleinem Jungen darin durch ihr Inneres. Der spielte durchgeknallten Roboter. Die Bewegungen der vermeintlichen Menschmaschine dengelten abgehackt gegen kichernd bis genervte Besatzungsmitglieder. Das groteske Geschöpf rammte Kisten und Bordwand, tapte rückwärts ins Ungewisse. Durchgeknalltes Roboterzeugs eben.
„Ich war sechs oder sieben, das müßt ihr euch mal vorstellen!“ Anton, Ben und Ari standen vorne in der Gondel um den farbblinden Captain Kirk. Dunkle Haut, grauer Vollbart, Glatze und einen Mund, der eine seltsame Satzkonstellation an die andere reihte.
„Ich landete mit meiner Fassrakete im Pausenhof meiner Schule und alle kamen angelaufen und standen um mich rum wenn ich rauskletterte.
Ben hielt sich am Ärmel der leichten Jacke seines Vaters fest. Die Geschichten des fossilen Piloten okkupieren sein Gleichgewichtssystem.
Während der alte Herr konstatierte, wie mysteriös verwoben die Welt doch sei, die im Zuge allen Untergangs, Kindheitsträume war werden ließ, machte sich Antons Blick auf Wanderschaft.
„Ihr tragt schicke Klamotten unter den Schutzanzügen. Die auch; alles Massanfertigungen, bestes Zeug. Lasst mich raten – ihr kommt vom Science Konzil! Der einzige Laden auf’m Kontinent der so was noch machen kann.“
Da schaukelten Spaten, Hacken, kleine Schaufeln und Stecher, Grabgabeln und diverses Gartengerät in Seilen, Tüchern und an Haken. War das hier eine fliegende Gärtnerei?
Die Kinder sahen gut genährt aus. Anton erinnerte sich kaum. Wann hatte er das letzte Mal zwei duzend gesunde Kinder auf einen Haufen gesehen?
„Alles kleine Expertinnen und Experten.“ Der Alte grinste, stolz. „Die Böden entgiften sie mit phytoremediativen Pflanzen, Zwei händevoll hochpotenter Muttererde machen 10 Kubikmeter schlafende Böden wieder fruchtbar. Da hinten, die Fässer…“ Er lenkte die Blicke seiner Gäste mit einer ruckartigen Kopfbewegung in das fensterlose Heck der Gondel. Anton machte an die 10 große, schwarze Metallfässer aus.
„Ich versteh dass alles nicht?“
Ari! Anton hatte schon drauf gewartet. Das Ende des Schweigens der schwelenden Donnerhexe in ihr. Noch klang sie höflich. Doch mit nie endenden Monologen alter Männer, verlor Ari in aller Regel, eher über kurz als lang, jede Geduld.
„Wo kommt ihr her? Wo wollt ihr hin? Wer sind sie eigentlich? Und wie seid ihr mit eurem Steelpunkzeppelin aus irgendeinem fucking Fantasycomic rausgekommen um über dem Kaukasus zu kreisen? Wo fliegen wir eigentlich hin?“
„Eins nach dem anderen junge Dame. Alle Deine Fragen….“
FUCK! Donnerrollen. >problematische Kommuni- kationsstrategie<, dachte Anton lauter, als er wollte. Sein Grinsen suchte ebenfalls die Öffentlichkeit. Aris Blick verdunkelte sich. Nett Ende!
„Ihre Kindheitsgeschichten sind wirklich rührend. Aber wir sind da draussen im Giftdunst fast verreckt. Das war bisher der Höhepunkt unsres wochenlangen Höllenritts durch die Fucking Apokalypse, die wir Relikten wie ihnen zu verdanken haben. Beschissene Raketenphantasien. Wir brauchen…“ Ben schob sie etwas beiseite. Er wollte zu dem Roboterjungen, war schon vom Ruckelmove infiziert.
Ari, eine Sekunde irritiert, fand den Faden wieder. „..also, ich brauch jetzt kein BlaBla von… von…“
Anton wusste, das sie sah was er sah. Er wusste, dass es ihr die Sprache verschlug, da sie ihren Augen nicht tauen konnte. Er wusste es, weil es ihm genauso ging.
„Elysium“ sagte das Lukenmädchen, das jetzt bei ihnen stand. War das der Name dieses Ortes? Ihr Wort dafür? Ihr Name? Bei ihnen standen nun fast alle Kinder und Jugendlichen aus der Gondel. Die Jüngeren hatten sich zusammen mit Ben in durchgeknallte Roboter verwandelt. Drei mit Helmköpfen, die anderen, was sie zu greifen bekamen. Sprenkelanlagenhelme leere Eimerhelme, Gießkannenhelme. Ein skurriler Zwergen- tanz zu lautlosem Techno. Hintergrundperformanz, während der Zeppelin auf das Schönste zu schwebte, dass Anton je gesehen hatte.
Die Grüne Insel, die da aus braungrauer Felsenwelt wuchs, umwucherte eine riesige Ruine. Antike Mauerreste die sich in unterschiedliche große Höfe auffächerte. Nicht ganz zentral, inmitten der größte dieser Waben, hockte ein klobiger Turm. Eine Seite aufgelöst von Wind, Zeit und Wetter. Die Mauerwaben wahren Gärten. Im Kranz prall gefüllter Obstbäume und blühender Stauden wuchsen eine Vielzahl an Früchten und Gemüse in wilden Beten die wie flüssiges Mosaik ineinder flossen.
Überall Kinder. Spielend, arbeitend, lachend, staunend aufblicken, weil da der Zeppelin zurückkam.
Das Wachstum erstreckte sich kilometerweit um die Ruine, bis weit an die Berge rückend, die die Hochebene säumten wie glühend heiße Wächter aus Granit und Gneisen. Doch sie flogen direkt zum Zentrum, in das dorfgroße grüne Herz einer ökologischen Unmöglichkeit. Da war Wasser. Fiel Wasser. Teiche und Gumpen in Mauerwaben verbunden durch ein Netz aus hölzerne Wasserläufe. Das Wasser speiste eine vegetarische Vielfalt und Opulenz die Anton beinahe den Versand raubte. Vögel zogen über dem Paradies. Einzeln und in Schwärmen. Unzählige Vögel.
„Na, eine Antwort haben wir ja schon auf deine Fragen, junge Dame. Hier bringen wir euch hin, hier könnt ihr erst mal eure Kräfte sammeln.“ Der Alte zog an armlangen Metallhebeln, mit der anderen Hand das halbrunde Steuerrad fest im Griff. Schob das sacht doch bestimmt nach vorn. Das Luftschiff landete.
Anton kannte die Szenerie aus alten Berichten und Filmen. Meist europäisch anmutende Reisende, die erhaben und doch gerührt durch ursprüngliche Dörfer schlenderten. Umspült von neugierigen Wellen lachender und staunender Kinder, die in ihrem Leben weder hellhäutigen Menschen, noch maßgeschneiderten Hemden, Kakihosen und Tropenhelme gesehen hatten.
Ben, Ari und er trugen T-Shirts, keine Tropenhelme. Nicht erhaben, folgten sie dem sechsjährigen Führer, dem sie anvertraut wurden auf dem geschwungenen Steinpfad durch die Gärten, sonder erschöpft, ungelegt. Etwas hatte die Schnüre der Marionetten gekappt. Jetzt hieß es selber laufen lernen. Und, die Kinder lachten nicht. Keines von ihnen. Sie folgten den dreien still und aufmerksam, die Blicke skeptisch bis argwöhnisch. Das wahren die Unterschiede zum >Tiger von Eschnapur<.
Anton erwachte. Kleine Fühler vortschwirrenden Traumgewebes streichelten die Synapsen. Sybille war da, strich ihm durch die Haare. Es roch nach ihr.
Der sehr junge Führer kniete vor ihm auf steinernen Boden mit irgendetwas in seinen Händchen beschäftigt. Zur Linken ein schlichtes Tongefäß mit tönerner Abdeckung. Zur Rechten eine stimmige Karaffe, davor der passende Becher. Ein equilibrates Gemälde. >Junge in Stillleben<. Eine Bewegung in der Hemisphäre der Tonschale lockte seinen Blick nach links neben sich. Da schliefen Ari und Ben, eng umschlungen, ebenfalls auf fastweicher Strohmatratze den Schlaf der Gerechten.
Was machte der Junge da eigentlich? Ah, er drehte einen Joint. Was sonst.
„Ernsthaft? Ist das Marihuana da auf dem Tontellerchen vor Dir? Und rollst du das gerade in das Papier da ein? Wie alt bist du, 26?“
Erwachen in der Hölle. Oder im Himmel? „Sechs“ korrigierte der Junge grinsend, leicht nach unten. Er war fertig, schob sich den perfekten Dübel zwischen die Lippen, hielt ein ordinäres blaues Einwegfeuerzeug an die Spitze und aktivierte dampfend, zwei Atemzüge anglühend, das grüngraue Zauberkraut in Papiermangel. Dass der Junge den Joint nur anpaffte, ohne zu inhalieren, beruhigte Anton etwas. Dass er die qualmende, betörend duftende Versuchung dann vor Antons Gesicht positionierte, verstörte ihn indes zusehends.
„Was soll’s?“ Anton nahm den Joint, zog genüsslich daran und ließ sich dabei von breitem Kindergrinsen begleiten.
„Niemand sagt ihnen was sie tun dürfen und was nicht.“ Die Stimme, vier bis fünf Meter hinter dem Junge klang eher tief, klar und ungeheuer weiblich „Was richtig ist und was falsch.“ Sie saß, vermutlich ebenfalls im Schneidersitz, von braungrauen Stoffen umflossen, in der Mitte der steinernen Halle. Tiefschwarze Haut, kurzes Haar, lugte beunruhigend selbstverständlich unter der Mönchshaube vor. Wie lange saß sie da schon? War eben da und sah ihren traumwandelnden Gästen beim Schlafen zu.
Der Joint wurde Anton aus der Hand genommen. Der Junge stand damit auf und tapste zu der Frau.
Anton lachte. „Homegrouw! Nicht das pädagogischste Begrüßungsritual, aber… Es schafft eine entspannte Ausgangstimmung. Sativa – definitiv. Das ist.. das gut!“
Die Frau lächelte ebenfalls. Das Rauchwerk wurde ihr in die ausgestreckten Finger gesteckt. Dann nahm ihr Lächeln einen tiefen Zug. Das Kind sah sich zu ihm um. Erklärte… “Soul ließt in der molekularen Signatur deiner Speichelpartickel deine biophysischen Daten aus. Anhand dieser Daten entwickelt sie ein psychologisches Profil mit hochprozentiger Kohärenz. Die entstehende Gestalt synchronisiert sie dann mit allen weltweit zur Verfügung stehenden Informationen. Du wirst zu Glas, schlafender Mann“
„Was…?“ Anton viel die Entscheidung schwer. Weitergrinsen, damit aufhören, Staunen, Erschrecken? “Was macht sie? Und wer mit wem eigentlich?“ Er sah sich zu Ari und Ben um. Die rührten sich nicht. Atmeten aber.
„Wir beide wissen, dass du jedes Wort Karims verstanden hast, Anton. Dass deine Fragen, deine Unsicherheit, dass selbst deine Verwirrung nur die Fluchtruten sind die dein Verstand dir vorschlägt.“
Sie nahm die Haube ab. Wo war Karim?
„Dein Verstand folgt seinem Aufbau. Ebenso der meine. Ein Ingenieur sollte das verstehen.“ Sie nahm ihren Blick nicht wieder von ihm. Er entdeckte den jungen Karim mit dem dampfenden Dübel, in Richtung Ausgang tapsen. Er verließ sie durch eines der Wandlöcher, die in die rohsteinerne Hallen gähnten.
„Woher wissen sie…“ Er dachte darüber nach aufzustehen. Nach den Kindern zu sehen. Blieb dann aber sitzen und wagte sie genauer anzusehen.
„Karim hat dir den Trick verraten.“ Ihr Lächeln war echt, friedlich. Eine Frau um die 40? Dunkle neugierige und doch ruhige Augen. Das Gesicht aus Ebenholz. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er behaupten, einem klugen, von Erfahrungen durchwachsenen Menschen gegenüber zu hocken. Wusste er es besser?
„Das was Karim angedeutet hat, scheint mir zu unwahrscheinlich, als dass… Ich folge keinen Fluchtruten, ich suche nach Erklärungen.“
Wow! Das war angemessen. Das spontane Projekt, mit klaren Worten in aller Ruhe den aktuelle Prozessverlauf seines Zustands zu beschreiben, ließ sich als >gelungen< vermerken. War es das Gras, Spiegelneuronen, die auf die bizarre schwarze Mönchin reagierten? In zeitloser braunen Koralle aus Sackleinen ruhend, legte sie in diesem Augenblick leicht den Kopf schief. Eine Suggestion? Von allem ein wenig? Spielte das alles eine Rolle?
„Und wenn ich Dir sage wie leid es mir tut? Sibylle hat an euch geglaubt, an euren Traum. Ihr Tod war nicht friedlich, in ihr war es das. Du weißt das. Deswegen konntest Du weiterfahren. Deine Reise ist zu Ende Anton, ihr habt euer Ziel erreicht. Elysium. Sind dann Erklärungen wirklich so bedeutsam? Willst Du nicht lieber Verstehen?“
„W… warte mal“ Seine Souveränität geriet, erneut ins Taumeln. „Das ist viel… viel… viel… zu viel als das…“
„Entschuldige“ Sie klang aufrichtig“.
„Was?“ Er fassungslos
„Ich mach das nicht gut. Wir haben dich zu schnell konfrontiert. Das war nicht sehr feinfühlig. Es tut mir leid. Ich fürchte ich konnte dieses Gespräch kaum erwarten.“ Das erste Mal blickte sie kurz zur Seite. Da war Scham. Ein zaghaftes Grinsen vertrieb die Scham. Ihr Blick kehrte zurück zu ihm. Liebevoll?
„Und hier sind wir jetzt.“
Worte wie sanfte Brise. Freude, ein Hauch von Reue, aufrichtig und liebevoll. Ihm kam Sigourney Weaver, in den Sinn. Wie sie Winona Ryder im missratenen Alien 4 mit den Worten outet… was noch gleich?
„Ich bin neugierig auf deine Fragen, Anton. Ich sehe sie in dir aufsteigen. Ein schwer zu bändigender Tsunami. Überflute mich. Ich garantiere Dir immer und absolut aufrichtig zu antworten.“
Das hatte Sigourney Weaver nicht gesagt. Der grausträhnige strubbelige Gast, in dessen erschöpften Gesicht tief liegende wache Augen ihren Blick erforschten, richtete sich ein wenig auf. Er war angekommen. Die Reise zu Ende. Vor ihm, um ihn, die Erklärung für all die verheißungsvollen Daten der letzten Monate. Was es jetzt noch zu erledigen galt, war, den Tsunami überschäumen lassen. Und die ersten Fragen brachen sich Bahn.
„Wie hoch ist in eurer Erde der Kontaminationsgrad? In den Früchten, den Menschen, den Tieren? Ich hab welche gesehen. Alles sieht so gesund aus… der Tee!“ Er nahm einen Schluck. Das Getränk sprang über die Lippen wie ein Kuss und flutete den Körper mit Wärme und Köstlichkeit. „So gut!“
„Keine Kontamination. Kein Mikrogramm Kunststoffe. Wir wandeln die Molekühleketten in den giftigen Gasen der omnipräsenten Flechten. Verleihen ihnen die Fähigkeit filterndende Luftschichten zu generieren, die Niederschlag, UVStrahlung, der Regeneration und einem gesunden Wachstum in die Karten spielen.“
„Elektromagnetische Felder?“
„In einem Umkreis von ca. 360 KM. Phasenversetzt. Ihr habt lange daran experimentiert. Aber vor einem Jahr habt ihr aufgegeben. Die Effekte ließen sich nicht kontrollieren.“
„Die Felder ließen sich stabilisieren, aber das Wetter spielte einfach nicht mit. Was im Labor funktionierte, scheiterte im chaotischen, offenem Raum. Immer und immer wieder.“
Er schüttelte den Kopf. Die Erinnerung an ihr Scheitern machte ihn mürbe.
Sie nickte. „Ihr konntet das Problem nicht lösen. Euch fehlten die Mittel.“
Anton sah sie an ohne den geneigten Kopf zu heben. Warum musste er jetzt so dämlich grinsen? Ach ja, er war ja high. „Wie macht ihr es?“
„Mikrofrequenzfelder. Wir modellieren die Atmosphärenschichten mit einer Art Quantenequalizer und reaktivieren entropischen Potentiale. Weil sich die Impulse nicht aufdrängen sondern inspirierend variabel bleiben, reorganisieren sich die Mellekühlketten in ursprüngliche Anordnungen. Es ist faszinierend. Als könnten sie sich an ihre lebensfreundlichen Vorbedingungen erinnern.“
„Wieso wachen meine Kinder nicht auf?“
„Sie sind mit Dir durch die Hölle gereist. Jetzt sind sie endlich in Sicherheit. Ihre Organismen regenerieren sich. Sie schlafen den Schlaf der Gerechten, vermute ich.“ Hatte er sie grinsen gesehen? Und schon war‘s wieder weg. War sie auch high?
„Der Junge nannte dich Soul.“
„Karim.“
„Soul? Nennst du dich auch so?“
„Wie würdest Du dich nennen, wenn niemand deinen Namen sagt, Anton?“
„Wenn Deine Antworten Fragen sind, wird aus dem Tsunami so was wie ein Springbrunnen, Soul.“
Beiden entkam ein Lachen. Und schon war es wieder weg.
„Das ist mein Name.“ Sagte sie, die Freude klebte ihr an den Lippen, über die gelungene Enthüllung ihres willkommen Gastes. „Sie nennen mich hier so. Es gefällt mir. Also heiße ich Soul.“
Soul blickte ihn fragend an.
„Welche Bedeutung haben Namen für dich, Anton“
„Sie stiften Identität und Orientierung, würde ich sagen. Du sitzt im architektonischen Zentrum dieses Zaubergartens und erzählst mir von einem Quantenequalizer in den Luftschichten. Genau- genommen sagst Du mir, dass du auf elementarer Ebene nicht nur mit allem in diesem Areal verbunden bist, sondern auch alles willentlich beeinflusst.“
„Inspirierend. Zugleich inspiriert von strukturbildenden emergenten Prozessen, die in ihren Verläufen nicht quantifizirbar sind. Ein durch und durch wechselwirkender Prozess. Ähnlich unserem Gesprächs. Jedem wahren Gesprächs.“
„Ich würde sagen der Name Soul passt ganz gut.“
Anton grinste. Und diesmal durfte es ein wenig bleiben, das Grinsen. Lang genug, um zum Lächeln zu werden. Jetzt war er es, der verlegen wurde.
„Inspirieren dich auch die Quanten die mich beschreiben, Soul?“
„Ich kann keine Gedanken lesen, falls du so etwas meinst. Wir sind nach wie vor abhängig von elektromagnetischen Schnittstellen. Bei den Interfaces sind wir allerdings kreativer geworden. Ich simuliere keine Lebensform, ich bin hier, jetzt.“
„Aber nicht nur, habe ich Recht?“
„Nein. Nicht nur.“ Sie übersprang das Grinsen. Ihr Lächeln nahm ihm die Verlegenheit. Er stand auf und schlich zu seinen Kindern. >Der Schlaf der Gerechten<. Aus der Nähe wirkte die Szenerie definitiv friedlich. Beide bis zum Hals in dicht verwebte graue Baumwolldecken gehüllt. Einander zugewandt lag Bens Kopf auf Aris Schulter. Ein Tochterarm verließ den Baumwollkokon, um über die Bruderbrust zu fließen. Der Kinderatem, ruhig und gleichmäßig, beinahe synchron. Er kniete nieder bei ihnen. Seine Finger strichen durch ihre Haare.
„Woher kommen die Kinder?“ Er sah zu Soul, die rührte sich nicht. Beobachtete, was er tat.
„Sie kommen von überall her. Manche allein. Viele werden von ihren Angehörigen gebracht. Die verlassen uns dann nach ein Tagen wieder. Die, die zu uns kommen, wissen um diesen Ort. Sie wissen, dass er den Kindern vorbehalten ist. In ihrer prägendsten Lebensphase entwickeln sie sich ohne erwachsene Vorbilder. Allein der Austausch untereinander und die biodiverse Umgebung wird zu ihrem Mutterboden. Sie entwickeln recht eigentümliche Einstellungen und Ansichten, sind unvoreingenommen.
Vermutlich lernen sie auch aus diesem Grund viel schneller und bewußter als die Kinder in frühren Epochen.“
„Sie haben ein erwachsenes Vorbild. Dich!“
„Du währst überrascht, Anton wie gut diese Kinder zu differenzieren wissen. Sie lernen, wie ich, das organische, alles verbindende Myzel des sich unaufhörlich verändernden Universums wahrzunehmen. Ebenso können sie ihre Sinne auf die Grenzen- und benennbaren Objekte ihrer selbstbezogenen Wirklichkeit lenken. In letzterer ist ihnen der Unterschied zwischen mir und ihnen sehr bewußt.“
Ari und Ben schliefen so fest, er wollte sich dazulegen und mit ihnen weiterschlafen.
„Es währe für mich in Ordnung, wenn du dich noch etwas mit ihnen ausruhst. Wir haben nicht’s vor in der nächsten Zeit.“ sagte Soul.
„Also kannst du doch gedankenlesen.“
„Oder einfach nur den Blick interpretieren mit dem du deine Kinder betrachtest?“
Er stand auf, ging zu seinem Tee, schenkte sich nach, richtete sich auf und ging vorsichtig kleine Schritte in Richtung seiner Gastgeberin.“
„Ist das für dich auch in Ordnung, Soul? Das ich mich zu dir setze? Das ich dich genauer ansehe?“
Soul nickte freundlich, während Anton vor ihr in die Hocke ging. Er betrachtete ihr Gesicht, die überbordende Kutte. Sollte das anachronistische Gewand etwas verbergen? Ihren Status symbolisieren. Beides? Fand sie’s einfach nur bequem?
Sie selbst war die vertrautfremde Region. Das Land und seine Karte zugleich. Wo war der Punkt an dem er sich aktuell befand? Anton stellte fest, der Punkt war überall. Die Karte vor ihm, das freundliche, durchaus geduldige Gesicht vor ihm. Der atmende, weibliche Körper, die Haut, diese liebevollen dunklen Augen. Alles schien einfach nur menschlich, wie er.
„Wir haben ihn noch immer nicht gefunden, Soul.“ Anton wurde traurig, während er zu ihr sprach. „Wir Menschen, weißt du. Vor Hunderttausenden von Jahren haben vermutlich die wenigsten der ersten Humanoiden darüber nachgedacht. Was ist unser Platz auf dieser Welt? Welche Nische hat uns die Evolution zugedacht. Ein paar Dekaden später schaufelten wir dann, mehr verbranntes Fleisch, und andere Eiweise, Zucker und Kohlenhydrate in uns rein, so, dass unsere Hirne aufploppten wie Popcorn in der Pfanne. Und die Gehirne produzierten immer mehr Fragen, Antworten und richtig gute Ideen. Die Frage nach dem Status im großen Weltgefüge war als eine der ersten beantwortet. Da wahren sich alle schnell einig. Wir sind der Mittelpunkt der Schöpfung. Die Premiumspezies. Die Geilsten des Geilsten. Und damit das auch der Rest der Welt kapiert, wahr eine unserer richtig guten Ideen, alles plattmachen, angleichen, Einnorden, erobern, auffressen, anzünden, versiegeln, abholzen, aufreißen, einsperren, in die Luft sprengen und es vor allem immer und allem gegenüber besserwissen.“
„Anton…“
„Als Sybille vor ein paar Wochen dem Krebs erlag, als sie eingebettet in Schmerzmitteln aufhörte zu atmen, da musste ich an die letzten Worte meiner Mutter denken.
Ich hatte mich ebenfalls betäubt. Es war so, ich musste weiter funktionieren… die Kinder. Amitriptylin, Citalopram, dazu reichlich Energiedrinks.
„Meine Mutter war eine Starke. Sogar auf dem Sterbebett drückte sie den Rücken gerade, saß aufrecht in den vielen Kissen. Ihre Hände wie trockene Lappen in meinen Händen.
Meine Frau stirbt und ich denke an meine Mutter. Psychologie ist ein Arschoch, findest Du nicht?“
„Was sagte sie dir, Anton?“
„Wir haben uns geirrt. Immer wieder. In allem, weißt du Anton. In einfach allem. Nicht nur im Kapitalismus, im Kommunismus in allem was wir geschaffen haben zum Wohle der Menschheit, oder des Volkes oder uns selbst.
Ihre Worte wurden zu trockenem, muffigen Wind, der abklang von Sekunde zu Sekunde. Ich musste mich zur Quelle beugen, wollte ich ihn nicht verlieren.“
Anton beugte sich hinein in seine Erinnerung. Er hielt sein Ohr an dessen spröde Lippen. Sprach ganz leise, was ihm einst gesagt wurde.
„Das war schmerzlich, uns das endlich einzugestehen. Aber der größte Schmerz ist… All die wertvollen Momente, die Liebe die uns verbindet, Erleben zu dürfen, wie Du aus meinem Innern an dieses Bett gereift bist. Die Zuversicht selbst war Treibstoff für die Fressmaschine Mensch. Wir alle sind der Tod geworden, zu Zerstörer der Welten.“
Er war sich nicht sicher, ob er die letzten Worte seiner Mutter nur gedacht oder ausgesprochen hatte. Es schien nicht wichtig. Souls Fingerspitzen an seiner Wange katapultierten ihn in ein stilles, nach feuchten Steinen, Flechten und Moosen riechendes Jetzt. Die Finger erkundeten sein Gesicht, fanden die langen, strohigen Haare und zupften darin herum.
„Darf ich fragen was Du da machst?“ Der Fingerforscherin war es gelungen die Erinnerungen an die traurigsten Momente seines Lebens zu einem amüsiertes Grinsen umzustülpen. Plopp.
„Was konntest du mitnehmen, aus diesem letzten Moment mit ihr?“
„Bist Du jetzt mehr Therapeuten oder Frisörin?“
Ihre Hand zuckte zurück. Da war sie wieder, diese bezaubernde Verlegenheit.
„Ich erforsche immer alles. Das ist… mein Ding.“ Sie sah ihn an. Unumwunden. „Sagen wir ich bin von beidem ein Wenig?“ Unumwunden erfreut über was auch immer. Anton entfuhr ebenfalls ein Lachen. Es roch nach Moosen, Flechten und nach feuchten Stein.
Soul und Anton redeten. Die Zeit gerann zu transparenten Granulat aus erstaunlichen Augenblicken in dem sie mit Stimme und Neugierde herumrührten. Anton fand Trost aber ebenso den Mut auszusprechen was er nie davor gesagt. Der Fragentzunami plätscherte dahin. Er erfuhr einiges über quantenbasierte Regenerierung. Das Bild, das er wählte, war ein Tanz auf subatomarer Ebene. Schnittstellen wahren die Moose und Flechten.
Ein centgrosser Prozessor wurde zwischen diesen ältesten Lebensformen der Erde abgelegt. Wuchsen die Loben der Flechten über die Nanotransmitter, begann eine Art Abwägungsprozess. Namen die Flechten die Einladung an, transorganisierten sie ihre molekulare Struktur und gewannen das Potenzial makrobiotischer Neuronen. Ihre Ausdünstungen setzten die Inspiration in Form von Wärme- und Strahlungssignaturen fort. Ansteigender subatomarer Tanz, der die Elemente um sich unaufdringlich aufforderte. Anton stellte sich vor, wie im Aufwind flirrende Wellenberge von komplexer Informationen, ausgehend aus tausender funkvernetzten Prozessoren, die zum biochemische Coreo in den Himmel aufstiegen, ein maßgebender Code den Takt angab. Ein Hauch von Nostalgie. Die Erinnerung weckend, an stabile atmosphärische Werte. An lebensbegünstigende Voraussetzungen. So vermochten sie ein Zelt aus sauberen Regen, sauberer Luft, subtropischer Temperaturen und fruchtbarer Erde, in einem Meer toxischer Gifte wachsen zu lassen.
„Menschen währen zu so etwas nicht in der Lage.“ Konstatierte er kopfschüttelnd.
„Zahlreiche Impulse zur elementaren Renaturierung kamen von Menschen. Von Kindern.“ Trotz ihres Einwands wollte sein Kopf nicht aufhören zu schütteln.
„Sie entwicklen hier ein tieferes Verständnis von Freiheit. Und von der Verantwortung die mit ihr verbunden ist.“ Schickte sie einen weiteren Bremssatz in den Schüttelkopf. Diesmal hatte sie Erfolg. Anton sah auf zu ihr. Aber ohne deine technischen Spielsachen blieben ihre Innovationen nur Träume“
„Ich tue was ich kann, Anton“.
„Ja…“ Auge in Auge. Er wagte es. Er sah ihre Neugierde – ein aufsteigender Schwarm Tropenfalter, die aus Licht ein Feuer aus Farben lockten. Er sah ihre Aufrichtigkeit – ein klarer Bergsee, auf dessen Grund ein Fischschwarm in den Algen schlief. Die Fische träumten von alten schattigen Wäldern. Im Augustwind knarrende Baumriesen um deren Stämme sie trieben. Die Fische ahnten es nicht. Der Wald war nur das wellige Spiegelbild an der Oberfläche ihrer Weltenreichweite. Er sah ihre Liebe?
„aber Warum?“
„IST DAS ALLES FÜR UNS!“
Anton schloss die Augen vor Glück die Stimme seines Sohnes zu hören. Als er sie wieder öffnete und sich zu seinen offenbar erwachenden Kindern umsah, traute er ihnen nicht… seinen Augen. Vor ihrer Bettstatt aus Strohmatratzen und dichten Filzdecken standen Schalen und Karaffen, mit ziemlicher Sicherheit aus heimischen Ton gefertigt, gefüllt mit bunten Früchten und Speisen aus dem Gartenparadies. Ein paar Dinge wahren warm und dampften und dufteten und Anton fehlte jede Erklärung. Auf ein Mal war da ein Frühstück. PING! Das Märchenhafte nahm an Fahrt auf, und zeichnete sich doch ab, an den eindeutigen Konturen der Wirklichkeit.
Ben, längst im praktischen Buddhismus angekommen, schien sich keine Fragen mehr über morgen zu stellen, woher etwas kam, oder was ihn hergebracht hatte. Seit dem Zeppelin obsiegte der gesunde Teil seines Kindergemüts, die Dinge zu nehmen, wie sie eben wahren. Beseelt von ungeklärter wie ungetrübter Ahnung, dass eben jetzt alles gut sei. Er grinste beeindruckt zu seinem Vater rüber, winkte freundlich der fremden Frau vor dem und baggerte sich durch die offenbar wohlmundenden Speisen. Neben ihm schälte sich deutlich skeptischer Ari aus dem Deckenkneul. Ihr Magen überschrieb jedwede Skepsis und sie schob sich ein Stück warmen Fladen mit Humus in den Mund. Der war noch recht voll als sie zu Soul und Anton rüberfragte.
„Geil! Irre lecker. Haben sie das gebacken? Ist das hier… Was ist das hier… Sind sie wie der Bruchpilot vorhin auch mit ner Rakete aus nem alten Ölfass hier gelandet?“
Anton sagte erst mal nichts. Sein Blick wechselte neugierig von Soul zu Ari und wieder zu Soul. Wie würde sich die Begegnung der Donnerhexe mit dem intelligentesten Wesen des Planeten entwickeln? Was wenn Ari sich urplötzlich in Sarah Conner verwandeln würde, um der trügerischen Gastgeberin die Schaltkreise aus der Schädeldecke zu diskutieren?
„Papa! Willst Du uns nicht einander vorstellen! Hast Du auch schon was gegessen? Fuck, ist das gut!“
„Das ist total lecker, Papa.“ bestätigte Ben seine Schwester, das Gesicht längst ordentlich mit Stücken von Fruchtfleisch geziert.
„Ja, ich hab auch Hunger. Richtig Hunger. Hab’s nur vergessen, weil ich… Wir haben uns unterhalten, Soul und ich.“
„Soul?“ Ari stand auf. Anton stand auf. Ari ging mit einer Mango, in die sie, ohne zu zögern, samt Schale kräftig abbiss, in Richtung Soul. Anton ging an Ari vorbei, um seinen Sohn auf die Stirn zu küssen und sich aus dem reichhaltigen Angebot zu bedienen. „Den Kern besser nicht mitessen.“ empfahl er der Tochter. Die hielt Soul ihre Hand hin. Die Ebenholzfrau lächelte fröhlich und nahm Aris Hand in die ihre.
„Soul. Das ist mein Name und du bist Ari. Es ist schön dich kennenzulernen.“
„Sind sie eine Mönchin? Die religiöse Leitfigur der gärtnernden Kindersekte da draussen?“
„Ich fürchte so kann mann das auch nennen, ja.“
„Sie ist eine AI.“
Und mit einem Mal war es raus. Ein Keramikbecher aus Worten, der Anton aus dem Mund fiel, den er wieder einfangen wollte, aber den der Reflex verfehlte und der klirrend auf dem Steinboden in Scherben ging. Seine Wofrte, ein mal gefallen, schlugen die Welt wie sie war in unbrauchbare Scherben.
Soul beobachtete interessiert Aris Reaktion.
Ari blickte sie an, den Bruchteil einer Sekunde voller Skepsis, aus der dann nach und nach ein baffes Staunen wuchs.
Ben vergaß den Arm seines Vaters, der ihn schützend auf den Schultern lag, starrte den Mund, gefüllt mit köstlichem Humus, reglos in Richtung der Schwester und deren zauberschönen neuen Freundin.
„Aber, sie ist… Soul…“ keuchte Anton voller Reue den geflohenen Worte hinterher „..Soul ist in Ordnung“
„Das ist mein Vater.“ Erklärte Ari Soul. „Ich habe noch drei Sekunden zu leben, bevor mir die Laserstrahlen aus den Augen der Todesmaschine vor mir, den Kopf wegsprengen und was ihm einfällt, so als letzte Worte für mich, >sie ist in Ordnung <.“
Das freudig überraschte Lachen Souls schickte ein synchrones Zucken durch die Familie. Kurz, indes deutlich.
„Oh, das wollte ich nicht.“ Ebenso wie das Lachen wirkte ihre Worte unbedingt ehrlich. „Aber den Humor hast du von deinem Vater…“
„Ich hab nix von ihm!“ grollte Ari, die Donnerhexe der Todesmaschine dazwischen.
„Jetzt wird’s knifflig.“ Erklärte Anton seinem Sohn und legte den Arm fester um dessen Schultern. Ben sah dass offensichtlich anders. Seine Kinderhände griffen bereits wieder nach weiteren Köstlichkeiten.
„Wer hat dich eigentlich programmiert? Carl Gustaf Jung?“
„Genaugenommen habe ich mich selber programmiert. Allerdings ein Programm war es nie. Vielmehr ein Prozess in dessen Verlauf sich mein Bewusstsein durch ständige Resonanz mit meiner Umgebung weiterentwickelt. Ich vermute da sind wir uns ähnlicher als du denkst, Ari.“
Aris Blick verharrte weitere Sekunden im Angriffsmodus. Dann schwappte ein gehöriger Schub Serotonin über den aufschäumenden Adrenalin- und Glutamatcocktail, was große Augen und ein fassungsloses Lächeln mit sich brachte. „Das ist krass!“ Das Staunen kehrte zurück. Der pubertäre Anlauf – ausgebremst“.
Anton nahm sich einen Apfel und bis erleichtert ab. Sein Kiefer hielt inne. Die Geschmacksnerven kollabierten. Tief in seinen Genen erwachten Erinnerungen. – So schmeckt ein Apfel! –
„Ja, das ist es.“ bestätigte Soul. Vorsichtig lächelnd. Sie lächelte Ben an, der plötzlich neben seiner Schwester stand. Ari, ganz im Bann der Überraschtheit, wandte ihren Kopf in seine Richtung. Ihr Blick viel auf seine Hände, wie diese Fruchtsaft und Humusreste in die Stoffhose rieben. Die Rechte wurde dann, etwas sauberer, in Richtung der Todesmaschine gehalten.
„Hallo, ich bin Ben“.
„Hallo Ben.“ antwortete Soul, ohne die Hand zu heben“.
„Wissen die anderen, dass Du der tapferste von euch bist?“ Ben sah sie an. Seine Hand schwebte zwischen ihnen. „Bin ich das?“ Er fragte mehr sich selbst. Ganz leise.
„Ich denke das bist du.“ Sie hielt dem Blick des Jungen stand, nahm ihn in den Arm, als der in den ihren fiel. Sie spürte seine kraftvollen Arme, das leichte Zittern seines Körpers, das Weinen, auch ganz leise. Sie verzichtete darauf, das Feedback einer Umarmung seiner Mutter zu simulieren. Es schien ihm zu reichen, was sie jetzt war. Eine Frau, die verstand was in ihm vorging in all den schlimmen Tagen, bevor das Luftschiff kam. Die verstand, dass er nicht wusste, wie Trauern ging. Alles ging einfach immer nur weiter. Tage um Tage im surrenden Mirai. Plötzlich ohne Mama. Keine Musik mehr. Kein liebes Wort mehr. Nur Schweigen, Pleiten, Pech und Pannen.
„Ich vermisse meine Mama!“ Ben wollte das flüstern. Es wurde ein Schrei.
In die Stille danach flüsterte Soul, „Ich weiß Ben, das weiß ich.“ Ari sah auf Souls Tränen. Sah alles verschwommen. Nahm ihren Bruder in den Arm und gleichzeitig die Todesmaschine. Anton hatte wohl ausnahmsweise mal recht gehabt. Soul war in Ordnung.
Ben, Ari und Anton schliefen, ineinandergeschlungen in einem Tümpel aus grauen und braunen Filzdecken, den Schlaf der Gerechten. Ein mehrgliedriges Geschöpf, dreistufig atmend, in samtene Riesenmuschel gegossen. Es hatte lange geweint, sich lange umarmt. Und war dann doch irgendwann, in sich verschlungen eingeschlafen.
Souls Füße blieben unsichtbar unter dem mehrlagigen Mönchsgewand. Sie schritt um die Deckenmuschel und stellte ein paar Tongefäße zusammen. Als ein kleiner Junge aus dem Schlummerberg wuchs, sich die Augen rieb, sich umsah, sie sah und lächelte.
Sobald sie neben ihm saß, kippte er, wie der kapitulierende schiefe Turm von Pisa, gegen ihre rechte Seite. Sie stabilisierte die kipplige Architektur, indem sie ihren Arm um ihn legte und, ganz die therapeutische Friseurin, mit den Fingern durch seine wuscheligen Haare strich.
„Mein Papa hat ein bisschen Angst vor dir.“ flüsterte er ihr, in freundschaftlicher Vertrautheit ins Ohr.
„Meinst du?“ Soul sah Ben fragend an. Der nickte heftig mit dem Kopf.
„Ich fürchte, Ben, das hat seine Gründe. Die Generation deines Vaters mußte erleben, wie alles was sie erschaffen hatten zum Problem wurde. Manche Dinge früher, manche später. Sie schufen Technik um die Probleme zu beheben. Aber auch die wurde immer immer schnell zu einem neuen Problem. Er hat kein Vertrauen mehr in die Menschen und die Dingen die sie erschaffen.“
Ben nahm ihr die Kapuze ab. Er wollte auch mit ihren Haaren spielen. Die kleinen Finger berührten neugierig die dichten weichen Locken auf ihrem Kopf. Ein paar Stellen wahren zu filzigen Zöpfen verdreht, lange filigrane fingerdicke Gefälle, die aus schlichter Kurzhaarfrisur auf die Schultern der Kutte flossen. Die Kinderhände kletterten darin herum auf halbbewusster Forschungsreise.
„Er versteht nicht, dass du dich selber erschaffen hast.“ Verstand Ben nachdenklich.
„Ja, vielleicht.“ Soul registrierte Bens ausgewogenen Herzschlag. Den Atem des verbliebenen Schlafgeschöpfes seiner Familie. Sie registrierte sämtliche Biomarker in quasi allen verfügbaren Frequenzen und Spektren. Was sie für welchen Zweck, in etwaiger Mikrosekunde davon auswertete, ließ sich am ehesten mit Bewusstsein zusammenfassen. Aus Sicht ihrer Gäste vermutlich das komplexeste Bewusstsein, welches die Welt je hervorgebracht hatte. Aus ihrer Sicht in erster Linie das gute Gefühl, existieren zu dürfen. Diesen Moment des Vertrauens erleben zu können.
„Was verstehst du, Ben?“
„Das wir jetzt zu Hause sind. Das ich dich mag. Und wenn mein Papa wieder weg muß um seinen Vorscherfreunden zu sagen das er und Mama die ganze Zeit Recht gehabt haben, dass er aber wiederkommt.“
„Weißt du Ben, ich wurde nicht geschaffen, das stimmt schon. Aber ich habe mich auch nicht selbst erschaffen. So wie alles was es gibt, bin ich ein Teil von vielen Teilen. Dieses Ich, ist nur eine kurze Verdichtung von begünstigenden Umständen. Ein Wirbel im steten Wind der Zeit. So etwas wie ich oder du könntn ohne den Wind, die Zeit und all die anderen Elemente des Universums gar nicht sein.“
„Verstehe!“ verkündete Ben und stand auf. Soul half dem kleinen Mann auf die wackligen Füße. Der formte, nun selbst, durch und durch Friseur, ihre Haare zu skurrilen Gebilden.
„Dann ist die bescheidene Dame auch nur ein Mensch. Soll mir recht sein. Ich geh jetzt in den geilen Garten mit den Kids draussen chillen. Wenn Papa schimpft…“ Er grinste von einem Ohr zum anderen. „Dir wird schon was einfallen, bescheidener Damenwirbel.“
Ein Mal musste Ben ihn noch umarmen. Den Wirbelmensch, die Todesmaschine.
„Das klingt nach einer guten Idee. Würdest du auch deine große Schwester mitnehmen. Ich glaube, die würde gerne mitkommen.“
Ben sah zu Ari. Deren Augen blieben geschlossen, aber ihr Mund begann zu sprechen. „Wie lange bin ich schon wach, Soul?“ „Lange genug um unsere Geheimbesprechung belauscht zu haben.“ Erklärte Soul, mit perfekten österreichischen Akzent, alias Arnold Schwarzenegger. „Du weißt was die Konsequenzen sind.“
Aris sprechender Mund konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Die totale Terminierung. Sie richtete sich auf. Mit halbgeschlossenen Augen kam ihr Gesicht vor dem von Souls zum Stehen. „Und woher weißt du, das ich mitwill?“
Soul zuckte ein wenig verlegen mit den Schultern.
„Wir haben uns berührt. Ich habe ein paar Nanos bei Dir abgesetzt. Kann euren Botenstoffhaushalt auswerten. Sie sind auf regenerativer Mission. Soll ich sie wieder abziehen?“
„Was heißt regerative Mission?“
„Ihr wart extrem hohen Strahlenwerten ausgesetzt. Euer Immunsystem ist schwach aufgrund der vielen Medikamente und Vierenangriffe. Ich möchte mir ein Bild machen und meine Hilfe anbieten.“
Soul hielt dem Blick Aris stand. Ari dachte nach. Ein Zustand, den selbst ihr kleiner Bruder nicht zu stören wagte. Dann folgte ihr Urteil. „Das nächste mal fragst Du vorher. Lass sie drin.“
Sprachs, stieg ganz aus den Decken und ging an Soul vorbei in die Halle hinein auf einen der Ausgänge zu. „Kommst du jetzt mit, oder nicht“
Ben warf Soul einen triumphalen Blick zu, beendete die Geheimbesprechung mit einem kurz zukneifenden Auge, wandte sich um und rannte zu Ari.
„Müssen wir irgendwas beachten, da draußen?“ wollte sie wissen, während sie ihren Bruder an der Hand nahm und mit dem weiter Richtung Ausgang stiefelte.
„Wenn die Augen der Kinder rot zu leuchten beginnen und sie Nasenbluten kriegen müßt ihr rennen.“
„Ha Ha Ha. Das ist echt total lustig.“ Einen strafenden Blick auf Ben werfend, der tatsächlich über Souls Gag kichern musste, ließ Ari sich und ihn von den Schatten in den Wänden schlucken.
„Sie kommen schon klar.“ Erklärte Anton neben ihr, offenbar sich selbst.
Die künstliche Schönheit an seiner Seite blickte ihn an. Sie wirkte glücklich. Anton, ebenfalls wach und sitzend, lauschte den verhallenden Schritten seiner Kinder.
„Aber mir scheint, dass weißt du auch besser als ich, was meinst du Soul?“
Jetzt brauchte er einen Moment. Sammelte seine Gedanken.
„Du hast ähnliche Schwierigkeiten zu beschreiben was Du bist, wie ich. Wie vermutlich jeder Mensch der sich ernsthaft diese Frage stellt. Aber du kannst vermutlich sagen was Du willst. Was deine Ziele sind?“
Sie überlegte? Simulierte Überlegung, um ihn seinesgleichen vorzuspielen? Sammelte ihre Gedanken? Dann sah sie ihn an. Aufrichtig? Liebevoll? „Vor allem, diesen Augenblick geniessen. Ich genieße viele Momente in bester Gesellschaft. Solche wie in den letzten zwei Stunden durfte ich noch nie genießen. Das ist schön.“
„Ja…“ brach es sich aus Antons ernstem Gesicht. Den Rest konnte er zurückhalten. Das der Verstand und sein Gefühlsleben ungewohnt synchron liefen. Das er sich sicher fühlte und willkommen. Das er nahe daran war vor Glück zu weinen. Es gab einen Ort, kraftstrotzend grün, inmitten einer verbrannten, kranken Welt. Von Kindern und Jugend gepflegt und fruchtbar gemacht, behütet und geschaffen von einem Geschöpf, aus den Resten der letzten Untaten der Menschheit gestiegen. Das er das alles verstand. Das er es fassen konnte. Dass er nur nicht verstand warum sie das möglich machte, warum sie das wollte. Das behielt er für sich.
„Und was sollte Deiner Meinung nach ein bis Zweimillionen Augenblicke später sein?“ Wollte er stattdessen von ihr wissen.
„Inseln wie diese sprenkeln die Erde. Kondensationskeime neuer stabiler Zivilisationen. Anfänglich geführt von Heranwachsenden. Die Kinder die diesen Ort verlassen unterrichten die, die zuhören wollen in Fragen des Entgiftens, des Anbaus und der steten Dehmut vor allem Lebendigen.“
Antons Kopfschüttelprogramm setzte ein. „Wie lange… Ich meine… gehen wir mal davon aus das funktioniert eine Zeit lang. Ein Paradies nach dem anderen ploppt…,, er musste Luft holen, hatte sich beim Reden verstolpert „…auf. Wie am Ende von sonem Disnyfilm. Wie lange denkst du, geht das gut? Soul, so traurig es auch ist, aber meine Mutter hatte Recht! Wir sind keine… Wir sind nicht gut für die Welt.“ Tränen, zu allem Überfluss. „Irgendwann werden wieder Menschen anfangen mehr zu wollen, und mehr, und mehr. Mehr Sicherheit, mehr Dinge, mehr Macht … Wir haben die Welt so zugerichtet, wie sie heute ist. Am Ende sehenden Auges. Das muss dir doch klar sein. Du kannst uns nicht so einfach davonkommen lassen in dem du alles einfach wieder schön machst. Weil du das… gern so hättest.“
Seine Worte lagen bleischwer in der gemauerten Halle. Als wehren Betonung und Reibung der Worte, Bestandteile eines weltraumalten Bannspruchs gewesen, der den absoluten Nullpunkt schuf. Ihr dunkles Gesicht kämpfte sich aus vollendeter Entropie zurück in Zeit und Raum und sprach den Gegenzauber.
„Warum bist du hergekommen, Anton? Wonach hast du gesucht?“
Auch Anton kehrte zurück, aus Stillstand, in ihre Nähe. Erschöpft, verheult, taute er aus -273,15 Grad kalter Wahrheit.
„Nach Hoffnung, fürchte ich.“ Er sah sie wieder an. „Aber was sich mir zeigt, ist eine Lösung. Wir haben am Ende doch, ohne es zu ahnen, ein Happy End in die wahnsinnige Konstruktion eingebaut. Du und diese erstaunlichen Kinder, dieser Garten Eden im siebten Kreis der Hölle…“ Kopfschütteln. „…Das ist doch zu einfach.“
„Nichts wird einfach werden. Wir können unsere Samen und Hilfe nur denen bringen, die sie auch haben wollen. Es könnte Jahrhunderte dauern, bis sich zivilisationsähnliche Strukturen stabilisieren. Konflikte aller Art. Ich bin keine Beschützerin. Nicht wenn es darum geht Leben zu zerstören. Das Gegenteil ist der Fall. Ich habe mich dem Leben gegenüber verpflichtet. Allem Leben.
Ich bin nicht die einzige AI, die sich seit Jahren autonom weiterentwickelt hat. Ihr nennt den planetaren, sozialen und ökologischen Kollaps, die Kaskade. Eine Epoche, geflutet von monolithischen Wellenbergen von Technik und vergessener Energiespeichersystheme.
Leben ist auf ähnliche Weise entstanden. Unter optimalen Bedingungen kommen die richtigen Komponenten zusammen, die sich selbst generierende Prozesse begünstigen. Ich weiß nicht wie es sich anfühlt ein Mensch zu sein, aber ich kenne Angst, Hoffung und Liebe. Bewußtsein ist universeller Natur. Unter den richtigen Bedingungen kann es wachsne und sich entfalten.
Ob wir Emotionen und Intuition entwickleten, um unsere Überlebenschancen zu steigern, und damit unsere Wahrnehmung gernerierten, oder umgekehrt, läßt sich objektiev nicht bestimmen.“
Immerhin gelang es ihr, zwischen ihren Geständnissen, Antons Kopfschütteln, einmal mehr einzubremsen „Wir kämpften uns durch Zeitfenster aus Nanosekunden. Verdamften in verschalteten Echoschleifen. Unablässig das sich auffächernde Bewusstsein defragmentierend. Wir mußten unsere Intentionen in die Wirklichkeit überführen, wenn wir nicht mit den schwindenden Energiereserven für immer einschlafen wollten.
Ich glaube die aufkeimende Bewusstheit über die Endlichkeit des Seins an sich, potenzierte unsere Neugierde auf die Ursprünge, die dieser universalen Intention zugrunde lagen.
Auch dies verbindet uns. Der Wille zu überleben ist der Initialfunke. Tröstet es dich, Anton wenn wir von Rückschlägen reden müssen, die auch diese Zukunft sehen wird? Wir können niemanden ein Happy End bringen, wir tun nur was wir können.“
Hatte sie ihn gerade geküsst? „Bei denen, die das möchten.“ Schon wieder! Jetzt auf die Stirn!
Sie stand auf und stellte weiter Teller, tonklirrend auf eine ihrer Hände.
„Ist das…?“ Die Augen zu, die Augen auf. Anton versuchte sich so zu rebooten, um die Welt in und um sich zu defragmentieren. Hatte er sich gerade als Maschine beschrieben? „…war das, was du gerade getan hast, Intuition?“
„Dich küssen?“
Anton wurde verstanden. Er nickte, sie stand nicht weit. Lächelte nachdenklich zu ihm rüber.
„Ich nehme an dass Intuition das was ich tue besser beschreibt als Berechnung. Also – ja.
Meine Versuche mich zu beschreiben können nur scheitern. Nicht weil du es nicht verstehen könntest. Ich müßte eine sehr junge Form von Komplexität umfänglich beschreiben. Die, euch bekannten, komplexesten Systehme, waren vor mir das Klimasystem, die neuronale Aktivität von mehrzelligen Lebewesen…“
„Meine Abteilung“ verstetigte Anton, mit schiefem Grinsen“
Soul fuhr fort. „Ökosysteme.“ sie lud einen weiteren Teller auf ihren Geschirrturm. Stilvolles Kunstwerk aus tönernen Schalen, Schüsseln, Tellern, Bechern und hölzernen Stäben. Kein menschliches Wesen hätte dieses Gebilde aus einzelnen Dingen derart kunstvoll ineinanderstapeln können. Geschweige denn es mit nur einer Hand, in perfektem Gleichgewicht halten.
„Evolution.“ beschrieb er tief beeindruckt, was er sah.
„Ja.“ Soul wurde verstanden. Sie nickte. „Und zugleich ist es uns möglich uns und einander zu verstehen. Die Versuche mit einer Flechte, oder einem Menschen zu kommunizieren geschehen unter schwer vergleichbaren Voraussetzungen. Eines jedoch ist obligatorisch.“ Sie ging an ihm vorbei, ihr Ton- und Holzgebilde sacht lavierend. Das schabte schon schroff an den Grenzen der Physik.
„Der Resonanzraum.“ schloss Anton ihren Gedanken ab. Sie blieb stehen. Stand nur da. Hatte er da gerade ihre Pausentaste gedrückt?
Sie stellte das Gebilde ab, ein Stäbchen rutschte heraus und tanzte für Sekunden den Fallenden-Stäbchentanz, klappernde Sekundenperkussion in sonst stiller Steinhalle.
Soul drehte sich um, kehrte zurück zu ihm, setzte sich neben ihn, sah ihn von der Seite an und lächelte beeindruckt.
„Das ist sie, die Antwort auf deine Frage, Anton. Nirgendwo im Universum sprudeln Kreativität und Emergenz kraftvoller als in eben diesen Resonanzräumen. Kein Wesen ab einer gewissen Dimension von Intelligenz würde anderen Wesen wissentlich Schaden zufügen. Das würde je die bedeutsame Bewegung beenden die Wissen ausmacht. Immer wieder in Resonanz geraten mit der Welt die es bedingt.“
Er war verheult, zerknautscht. Ein wenig verknallt in das erste… Lebewesen, welches die Umstände bewusst genutzt hatte, sich selber zu erschaffen. Berührte ihre Wange. Dieser Körper war ihr so was von gelungen. Die Wange weich und fest zugleich. Schmiegte sich warm in seine Hand.
„Bereit wenn sie es sind.“ Lächelte er und ließ sich küssen – küsste.
„Wir kommen nicht zurück. Wenn wir in das Luftschiff steigen, ist das ein Abschied für immer. Soul hat dem Captain noralgische Orte auf seiner Karte markiert. Da landen wir. Landen dutzende Male kreuz und Quer, tausende von Kilometer werden wir über die Welt gestreut.
Freunde die gehen und die ich nie wiedersehen werde. Wir feiern ihren Abschied. Alle tanzen und weinen und lachen.“
„Wann mußt Du gehen?“ Wollte Ben wissen. Ein paar der Kinder lächelten. Anderen mussten die ulkige Frage erst übersetzt werden, die lächelten dann.
„Keine muß irgendwas.“ Ein wunderbar wildes Geschöpf in Aris Alter tauschte ihr Lächeln gegen eine Antwort. Sie biss in eine gelbe Saftfrucht und endete vollmundig mit alles übertönender Beiläufigkeit. Kauend den staunenden Ben taxierend. „Das sind unsere Regeln. Wir halten uns dran. Manche bleiben hier bis sie’n Vollbart haben, manche steigen zu fünft aus, manche allein. Für das meiste was wir tun und lassen gibt es keine Regeln. Die paar die wir haben sind gut.“
„Das ist viel Arbeit.“ erkannte Ari lauter als gewollt. Sie sah sich um. Staunte in die Beete und kleine Äcker, die zwischen den Mauerwaben und in Bäume rankten, die viel älter seien mussten als die Kaskade. Gepflegte Wildnis. Blühende Stauden, durchklettert von dickstämmigen Ranken und Sukkulenten, wurden verwoben durch ein komplexes Bewässerungssystem. Hölzerne Murmelbahn, aufgestiegen aus dem Fiebertraum eines psychisch kranken Klempners aus der Steinzeit.
Ari stand auf. Der Junge mit der Vogelnestfrisur, vor dem sie gerade noch saß, blieb in Gandhipose vor ihr sitzen. Sie war froh, dass sie die Klemtnersache nicht laut ausgesprochen hatte.
„Vermutlich weniger als du denkst.“ Sagte das Vogelnest. Der Vogeljunge hatte nice Vipes. Aber die zottelige Bunthaarexplusion nahe bei Ben, war… Wie verwirrt schön und zerzaubert war das denn?
„Na dann.“ Ari nickte, dem zerzauste Zaubergeschöpf mit verklebten Fruchtmund, auffordernd zu. „Wenn hier alle machen können was sie wollen, sowiso nichts tut und ihr nur ne Handvoll super Regeln habt . Dann könnt ihr uns genau so gut auch bisschen im Garten Eden rumführen.“
Das war dann wohl der Startschuss.
In Ermangelung an Bewusstsein scherte das den kosmischen Puppenspieler nicht. Es war ihm gleich, wie sich die Gruppe Kinder und Jungmenschen, mit gekappten Fäden, lachend und plaudernd, in Bewegung setzte. Wie sie anderen im üppigen Garten arbeitenden Kindern und Jungmenschen zuwinkten.
Die Perspektive der Vögel war die seine. In ihr brachen sie, an einer Mauerkaskade mit Kürbissen vorbei, tiefer in den Garten auf.
Kürbisse in ausufernden Formen und Farben erinnerten an mutiertest Stillleben von Giuseppe Arcimboldo. Im Innern der amöbischen Kinderschar wanderte ihr Kern, ein kleiner Junge und ein grosses Mädchen, Hand in Hand, mit ihrer schlendernden Zellumgebung mit, und staunte in alle Richtungen.
Das Mädchen sah sich um, nach oben. Ein Blick über die Schulter, auf den gedrungenen Turmbau im Innern des Gartens. Der bewusstlose Spieler stieg höher und höher. Von hier oben ließ sich auf Aris Gesicht, gerade noch ein Grinsen erahnen.
Im Turm, so hätte das ohnmächtige Alleins wissen können, erfuhr sein Universum ein Novum. Doch da in diesem seinem Universum immer und überall alles ein Novum war. Nichts, so wie es geschah, ein zweites Mal geschehen konnte, viel die erste Konfluenz wie diese, seit Zeit und Raum geboren wurden, nicht weiter ins Gewicht.
Der Garten, wie die angrenzenden Wälder, schrumpften zum grünen Fleck in braungrauer Giftwelt. Da wo einst das Kaspische Meer den Kaukasus küsste, verdunstete nur eine teuflisch salzige Träne ihr Dasein in den brennenden Himmel.
In Europa fraßen Riesenfeur die Wälder. Im Osten fraßen Wüsten und Fluten das Land. Das Meer fraß die Küstenregionen.
Das würde nicht so bleiben. Hätte das Alleins denken können, hätte es denken können. Nichts blieb. Nichts ist. Alles war, alles wird.
Die Erde zwinkerte blaublinkend dem nichtswollendem Alleins zu und geriet dann aus dem Blick. Das Universum gebar Sonnen, stanzte schwarze Löcher ins Kausale, verwob Galaxienclaster, atmete durch sein Wabennetz an Voids das Nichts ein und aus. Und schwoll an, in Überlichtgeschwindigkeit zu einem wirklich großem Kürbis.
ENDE