(R) EVOLUTION

Warum wir noch nicht für eine rationale Sicht der Dinge bereit sind

Werner Heisenberg sinnierte im Juni 1919 über den platonischen Lehren der Kleinstteilchen auf dem Dach des Pristerseminars in München in der Sonne. Ihn irritierte die seltsam eingeschränkte Sichtweise des griechischen Philosophen und Mathematikers. Wie konnte ein so kluger Mensch davon ausgehen, dass die Welt und alle Dinge aus einer Art Steckklötzchensystehm bestand?
Der Denkansatz der Elementarteilchen war genial, die damit einhergehenden Wissenslücken indes wurden mit dem damalig verfügbaren Vorstellungspotenzen ergänzt. Ein, wie es scheint notwendiger „Schachzug“ zu dem die damaligen Gelehrten in Ermangelung an Elektronenrastermikroskopen, oder eines Teilchenbeschleunigers greifen mussten, um ihre großen Denkkonstrukte in ein geschlossenes, wissenschaftliches Gesamtbild zu überführen.
Doch diese „Technik“ war nie ein spezielles Merkmal historischer Wissenschaftskultur. Das Ergänzen etwaiger Wissenslücken mit vermeidlich wissenschaftlich, oder religiös scheinenden Erklärungen ist lebenswichtige Strategie beinahe jedes Menschen auf der Welt.

Die Wahrheit gibt es nicht

In Gesprächen mit den Menschen die mir tagtäglich begegnen, also Begegnungen in Beruf und im Privaten, so auch in der Begegnung mit mir selbst, scheinen mir überwiegend drei wesentliche Elemente in der Symphonie der jeweiligen Wahrnehmungen vorrangig.
1. Das eigene emotionale Spektrum
2. die abstrakten Konstruktionen wie Glauben, Ideale und tendenziöse Theorien
3. und im Besonderen; Die jeweiligen unmittelbaren und stets subjektiven Sinneseindrücke.
Die Umwelt zeigt uns immer nur Ausschnitte. Egal was wir hören, sehen, riechen, schmecken, fühlen, oder tasten. Es bleiben räumlich und zeitliche Fragmente einer in sich geschlossenen Wirklichkeit die wir als Ganzes nicht erfassen können. Zahlreiche, evolutionär bedingte Gesichtspunkte machen uns ein Eingeständnis dieser nahezu universellen Begrenztheit unerträglich. Ein einigermassen geschlossenes „Weltbild“ ist doch für einen ruhigen Schlaf unerlässlich.

Die Wahrheit gibt es nicht (2)

Unsere Wissenslücken werden reflexartig gefüllt, mit Glauben – der in sozialen Strukturen zu Religionen, Wehrten oder Idealen wird. Erfahrungen werden dabei schnell zu vermeintlichen Wissen extrapoliert, Theorien zu Fakten stilisiert. Die einzige Möglichkeit, die Komplexität einer, nur teilweise greifbar und begreifbaren Gemengelage zu (be)greifen ist es, sie zu vereinfachen. Das evolutionär bedingte Streben, nach Erkennen, und territorialer Überlegenheit, macht ein Sich-Eingestehen unserer atomistischen Perspektiven quasi unmöglich. Theoretisch lässt sich zwar darüber grübeln, wie Sokrates es mit dem Satz „ich weiß das ich nicht weiß“ tat, im alltäglichen Getriebe wird diese große und unumstößliche Vermutung jedoch stets aufs Neue zerrieben und von subjektiven Holismen überlagert. Auch Platon behauptete die platonischen Körper, das göttlichen Steckbausteineset, als Fakt ohne wirklich von ihnen wissen zu können.

zielführende Alternative zum Besserwissen (1)

Von allen Versuchen einen entspannten Umgang mit der Unwissenheit zu finden scheint mir die Herangehensweise der modernen Wissenschaft, im besonderen der Naturwissenschaften der zielführendsten zu sein. Besonders dann, wenn ein Ziel die lebensbejahende Reintegration des Menschen in ein wechselwirkendes und hochkomplexes Ökosystem ist. Auf diesem Weg ist ein Begreifen um geologische wie kosmologische, chemische und biologische Zusammenhänge noch nie so verfügbar gewesen wie in den letzten Jahrzehnten. Gerade wiel das wissenschaftliche Sehen nicht entlang der traditionellen Wahrnehmungsreihe Licht – Netzhaut – Hirn verläuft. Stattdessen nutzt Wissenschaft heute die bestehenden technischen Möglichkeiten, gemachte Theorien jederzeit und überall in der Realität überprüfen zu können, und somit Irrtümer weitestgehend auszuschließen. Empirik und das Experiment sind, ganz anders als der individuelle Verstand, weitestgehend integer. Angewandte Wissenschaft liefert uns jederzeit und überall den Bewies; Die Kohlenstoffeinheit Mensch kann mittlerweile die kleinsten aller Teilchen/Wellen verstehen und somit beherrschen, oder eine weitreichende Karte des gesamten Universums erstellen.

…ja aber…

„Warum sollen wir nicht irgendwann doch zu anderen bewohnbaren Planeten aufbrechen können?“
„Klimawandel gab es doch immer wieder auf der Erde, warum sollen ausgerechnet jetzt wir Menschen daran schuld sein. Woher wollen wir überhaupt wissen, dass wir verantwortlich sind für all die dramatischen Veränderungen?“ Und überhaupt, „was hab ich damit zu tun bei 7,35 Milliarden Menschen pro Erde?“
„Woher wollen wir denn wissen, ob Leben immer auf Kohlenstoffbasis aufgebaut ist. Viellicht gibt’s es ja doch Bewohner auf der Venus.“
„Sind Arbeitsplätze und Wettbewerbsfähigkeit nicht wichtiger als Umweltbedenken, z.B. bei der Planung von Kohle- oder Windkraftwerken?“
Ein altbekanntes Potpourie. Der Infinitive Regress als gut geschmierter Motor im steten Diskussionskarussell. Sachlichkeit wird durch systematische Beschleunigung dabei regelmäßig aus dem Kontext geschleudert. Der AFDler Georg Pazderski spricht sich gegen Statistiken und Recherche aus. „Es geht auch darum was der Bürger empfindet. Das was man fühlt ist auch Realität.“ Wenn Emanuel Kant von der „Selbstverschuldeten Unmündigkeit“ spricht, scheint mir die Sichtweise eines Herrn Pazderski ein leuchtendes Beispiel zu sein.

Strukturwissenschaften wie Mathematik und eine Vernetzung und Verfügbarkeit quasi aller existierender Informationen ermöglichen uns vor Jahren und Jahrhunderten gemachte Theorien, punktgenau und stets aufs neue an der Realität scheitern zu lassen. Scheitern sie nicht, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass etwas dran ist. 

Daher wissen wir, selbst wenn wir uns mit annähernd Lichtgeschwindigkeit durch das Weltall bewegen könnten, bräuchten wir 100000tausende von Jahren um das nächste Sonnensystem zu erreichen.
daher wissen wir, es ist unbestreitbar, dass wir es sind die den schnellsten Klimawandel seit 25Millionen Jahren zu verantworten haben. Wir wissen daher, dass die Amerikaner auf dem Mond wahren und Ausschwitzt ein Massenvernichtungslager war. Denn in diesem Universum entscheidet noch immer die Realität darüber was Realität ist. Nicht das Empfinden der Bürger.

zielführende Alternativen zum Besserwissen 2

Anders als die meisten Individuen hat Wissenschaft nicht den Anspruch Recht zu haben, oder eine unumstößliche Wahrheit zu postulieren. Sie überprüft lediglich die Wirklichkeit mithilfe aller zur Verfügung stehender Mittel und ohne Unterlass darauf, welche Vermutung von allen formulierbaren Möglichkeiten wohl am wenigsten falsch ist. Diese Herangehensweise ist nicht nur nicht fehlerfrei, sie macht den möglichen Fehler zum festen Verbündeten. Der Irrtum ist maßgebende Koordinate. Ein recht nüchterner und bescheidener Weg der sich auf das falsifizieren wieder dem verifizieren verlagert hat. Konsequent begangen, führt er uns mit Voyager 1 über den Rand unseres Sonnensystems tatsächlich in den interstellaren Raum und auf den Grund des Marianengrabens. Wir expandieren unsere modifizierten Sinne in’s Sonnensystem und vermessen den Weltraum mit automatisierten Sonden Superteleskopen und Robotern. Jeden Menschen der es sich leisten kann verfügt über quantenmechanisch gesteuerte Mikroelektronik mit Herz- und Bitraten die sich zyklisch zu immer neuen Rekorden aufschaukeln. Der Weg der angewandten Wissenschaft ist, allein mit Blick auf die Errungenschaften innerhalb der letzten 200 Jahre, der erfolgversprechendste den wir Menschen gehen können. Er kann zu großen Frieden und zu verheerenden Kriegen führen. Würden wir, dem ihm innewohnenden unbestechlichen Ratio konsequent folgen, währen dann ideelle und emotional Konflikte bald Vergangenheit?

Goyas Hoffnung

Wir nutzen mit schöner Selbstverständlich unzählige Bestätigungen, dass Heisenberg, Einstein, Kopernikus, Edison, und ungezählte andere wissenschaftliche Pioniere auf der richtigen Spur wahren. Und doch werden diese tagtäglichen Bestätigungen einer quantifizierten, universell vernetzten, energetischen, physikalisch nachvollziehbaren Welt als banale Nebensächlichkeiten wahrgenommen, die mit der Beschaffenheit der Existenz an sich nur wenig zu tun haben. Warum ist das so? Allein die Existenz eines Smartphones schiebt alle bestehenden religiösen Schöpfungsmythen mit einem Wisch über den Touchscreen zumindest in Frage.
Ist es die Angst, das Hermeneutik, Philosophie, Mythologie, Rituale oder Religion an Wehrt verlieren? Das wir zu gefühllosen, Binäreinheiten sterilisiert werden, die am Ende jeden Sinn für Schönheit, Schrecken und Humor verlieren?
Ich vermute derartige Ängste sind vorgeschoben. Sie sind Teil unserer Strategie die Anfangs erwähnte holistische Denkstruktur zu bewahren, die uns Nachts ruhig schlafen lässt. Denn auch objektiv betrachtet, sind Gefühle, abstraktes Denken, sind unsere Phantasie, Moral, Ethik, Angst und Hoffnung hochkomplexe biochemische Prozesse jedweder Kohlenstoffeinheit auf dem Planeten. Vernünftiger werden heißt nicht auch Gefühlskalt werden. Im Gegenteil. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Das Erwachend der Vernunft indes macht Ungeheuer ungeboren.

Evolutionär betrachten bedeuten Jahrzehnte so gut wie nichts. Wir stehen also vermutlich noch immer am Anfang einer evolutionären Versuchsanordnung in der unzählige Potentiale schlummern, destruktive wie konstruktive. Mich beschleicht allerdings der Gedanke, dass das Model Homo Sapiens Sapiens nach knapp Zwanzigtausend Jahren zumindest einen Pfad entdeckt hat, der uns aus der andauernden Krise führen könnte. Ob wir ihn gehen werden steht in den Sternen. Das Erwachen der Vernunft indes wird vorstellbar.

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