BALD

Barbara Hipp

2023, nachmittags um drei, ziehen die Wolken über das Land.

Es beginnt schon 2021. Ein Dorflehrer im Süden Frankreichs schickt seine Schüler mit der Aufgabe „die Pflanzen auf einem Quadratmeter Wiese zu zählen“ vor die Tür. Am folgenden Tag sollen sie beobachten, was sich auf dem Wiesenfleck bewegt und einen Tag darauf entwerfen sie eine Skizze zu seiner Besiedelung. Am Ende der Schulwoche kommen die Kinder mit Gemälden der schönsten Pflanze auf ihrem „carré“ nach Hause.

Elternbeschwerden gehen im Rektorat ein – mit dieser Zeitverschwendung soll wertvoller Unterricht nicht vergeudet werden. Ein erster Journalist wird aufmerksam, eine kurze Notiz „Nichtstun im Unterricht – Eltern in Sorge“ wird veröffentlicht. Der Schulträger bittet um offensive Klärung.

In einer öffentlichen Veranstaltung am Nachmittag, mittlerweile gut durchsetzt von Presse und Amtsträgern, wird dieser Bitte nachgekommen: Nach hitziger Debatte entschließt man sich, die Lerneffekte in Selbsterfahrung nachzuvollziehen. Ausreichend Platz bietet die alte Allmende vor dem Dorf, die von Zeichnenden und Abwartenden belagert wird. Man bittet um Ruhe, die allgemeine Aufregung wandelt sich, die Presse verharrt in Spannung.

Nach kurzer Zeit liegt ein Schweigen über der Wiese, einige machen es sich bequemer und liegen auf dem Bauch, andere wenden sich von den Pflanzen ab und wählen lieber ein Stück Himmel, gelegentlich ist ein allergisches Niesen zu hören, selten ein zartes Schnarchen. Ein voreiliger Journalist, wird freundlich darauf hingewiesen, dass er einen bereits belegten Quadratmeter Wiese betritt: „Pardon, c’est mon carré.“

Es ist drei Uhr, ein Dorf in Stille. Die Wolken ziehen.

Was für ein Ereignis. Es wird mit einem Picknick gefeiert. Die Nachbargemeinde will der Entwicklung nicht nachstehen und kündigt eine Folgeveranstaltung mit Gastvortrag an, während ein Pressestreit klären will, ob hier eine ganze Region mit „mon carré“ mutig neue Wege geht oder sich einfach lächerlich macht.

Der Durchbruch geschieht mit einem „mon carré“ -Video, hochgeladen von einer Schülerin. „Mon carré“ wird weltweit ausprobiert, T-Shirts gedruckt, „mon carré -Picknicks veranstaltet, in Kultusministerien gehen Elternanträge ein, „mon carré“ als persönlichkeitsbildende Maßnahme ins Curriculum aufzunehmen; Firmen renaturieren Teile ihres Geländes, um „mon carré“ ins betriebliche Gesundheitsmanagement aufzunehmen; pollenarme Wiesenmischungen werden gezüchtet, damit auch Allergiker an den entspannten Beobachtungen teilhaben können. Zwischen drei und vier Uhr am Nachmittag kehrt Ruhe ein, es ist Zeit für die Wiese. Stille. Die Wolken ziehen.

 

SPALTEN

Klaus Maria Brandauer sprach in einem aktuellen Interview in der SZ, während er von der EU sprach „…nicht von einem Problem, sondern von der Lösung“. Wenn sich nun ein ganzes Land von dieser Lösung abwendet, oder zumindest ein Großteil deren wahlberechtigter und wahlbereiter Bevölkerung, stellt sich die Frage; Wendet sich dieses Land von der Lösung ab. Herr Brandauer geht nicht direkt darauf ein für was Europa die Lösung ist, so doch indirekt. Er erinnert daran, dass es vor der Wende, also vor dem Europa welches seit 1989 an einem gemeinsamen Wertekodex arbeitet, keinen Frieden gegeben hat.

Das sollte sich eine jede und ein jeder ein mal auf der Zunge zergehen lassen. Es ist nicht etwa so, dass es vor der europäischen Union seit dem 30jährigen Krieg selten Phasen des Friedens gegeben hat. Es ist so, dass vor dem Brüsseler Pakt ausschließlich Krieg in Europa herrschte. In einer Zeit der wachsenden Klüfte, der sich öffnenden Scheren und der dipolaren Verwerfungen, den Spaltkeil tiefer in das friedenstiftende System, das global einzigartige Experiment nachhaltiger übernationaler Verbindungen zu treiben, scheint mir Lichtjahre entfernt von einer gut entwickelten, wohl überlegte, mehrheitlichen Entscheidung. Dies alles wirkt wie das der böse Zerrspiegel des irrigen Prozedere welches 1989 am Ende für den Fall der Mauer verantwortlich war. Eigentlich ebenso ungewollt und doch passiert, verändert dies, was soeben noch undenkbar war, nun alles. Und diesmal sicher nicht zum Guten. Es sei denn…