ERZÄHLEN

Chiamanda Adichie erzählt von den Gefahren und den Chancen des Geschichtenerzählers. Diese wohl älteste aller Kulturtechniken der Menschen, Mutterboden für Glaube, Religion, Verschwörungstheorien und schöpferischer Imagination, schuf ganze Kulturen und verwüstete ebensolche.

Die eine Geschichte, die eine Wahrheit, lockt Leid, Verzweiflung und Konflikte. Die Diversität der Erzählungen, der Perspektiven der Geschichten, lockt Frieden und Gelassenheit. Die finale Revolution, die unzähligen Formeln wie, wo etwas hinführt, den einen richtigen Glauben, die eine gute Idee… haben wir alles tausende von Jahren ausprobiert. Neu währe die diverse Lesart der Dinge. Neu währe, statt auf einzelne Thesen zu setzen auf die unbeschreibliche Vielseitigkeit der Realität zu bauen. Noch nie wahren die Möglichkeiten dafür so ideal. Auch wenn uns der Abschied von den einen Geschichten schwer fallen würde, an die Jede und Jeder von uns festhält; Ich denke es würde sich lohnen. Wir müßten nicht weiter warten oder suchen, wenn wir endlich begriffen das alles längst ist.

MYFEST

früher, als das MyFest noch 1.Mai-Demo hieß, als effektvoll die Autos brannten und keine Fensterscheibe hielt die nicht mit Brettern vernagelt wurde, schien mir der Geist von la grande dame la révolution noch gesund, unbestechlich und wild. Dann amalgamisierten 2003 die verräterischen VeranstalterInnen mit Herrn Dieter Glietsch dem neuen Berliner Polizeipräsidenten (der wenigstens drei Jahre später auf der 1.Mai Demo ordentlich dafür verprügelt wurde). Gemeinsam lockten sie unzählige Zauberclowns, Köftebräter, 20 Musikbands pro Straßenzeile und buntes Familienprogramm ins Epizentrum 36, um die Bambulanten beim Stören zu stören. Mir schien das damalig ein perfider Missbrauch der Zivilgesellschaft. Bunt bemalte Picknickfamilien ließen sich zu fröhlichen Schutzschildern gegen aggressive, prodemokratische Reflex verstricken. Zudem schienen mir Straßenkämpfe und brennenden Autos um einiges fotogener, als die, sich friedlich durch die Monsterparty quetschenden Massen.

Nach ein paar Jahren habe ich dann zwar den Sinn des Deeskalationskonzept widerwillig anerkannt (was auch daran lag, dass die hellgrünen Umhänger des neuen ungepanzerten Deeskalationsteams der Polizei so schön mit dem frischen Frühlüngsgrün der Bäume und Büschen korrespondierte – auch sehr fotogen http://www.fotocommunity.de/photo/gruenzeug-dion-m-beeck/13330575).

Das MyFest machte mir trotzdem weniger „Spaß“ als das destruktive Chaos die Jahre davor. Es roch einfach nicht mehr nach Tränengas und notwendigen Protest, sondern nach verbrannter Köfte und Kotze. Geht das überhaupt? Kontrollierte Anachie?

Dieses mäkelte ich gestern in trauter WG vor mich hin, als meine Mitbewohnerin Cornelia eine Lanze brach für aktuellen Wahnsinn. – So etwas gibt’s in keiner anderen Stadt. Typisches Kreuzberger Feeling mehrfach multipliziert. Überall wird gebraten und getanzt und weit und breit kein Ordnungsamt das irgendwelche Lizenzen sehen will. Überall Musik, einige richtig gut. Ein Taumel aus irgendwie politischer wie massenweise guter Laune. Noch dazu einer der wenigen nicht christlichen Feiertage. So viel Menschen, auf den Straßen. Die Polizei, geschult entspannt. Die Wasserwerfer für alle Fälle epiperipher vor der Hasenheide geparkt. Das Motto ist einmal mehr in dieser Stadt – ALLES DARF SEIN – Besonders was nicht seihen darf. Und über allem schwebt nach wie vor, stolz und subversiv la grande dame la révolution, wenn auch tendenziell in Feierlaune (na ja, nicht ganz so, aber ähnlich sagte sie’s) –

Dies alles habe ich soeben selbstisch überprüft und möchte Cornelia hiermit beipflichten. Es sind weniger Zauberclowns. Es stinkt nach Köfte und Kotze, der Görli ist ein Flaschenmeer, in dem die Masse rhythmisch wabert. Die Flaschensammler die das nutzen, können danach direkt in’n Urlaub fliegen. Den werden sie auch nötig haben, nach tagelangen warten in den Schlangen vor den Getränkepfandautomaten. Die Musik ist allerorts erstaunlich gut. Die Laune ist politisch und bestens, die PolizistInnen sexy und freundlich in schicker schwarzer Panzerkäfertracht. Und mittendurch walzt sich auf einmal unangemeldete Demo durch die Party. Unbehelligt von der „Ordnung“ erscheint sie Tausenmenschenstark aus bengalischen Rauschzauber und behauptet, organisch wachsend die Nauny- und die Wienerstr als „unser“ Territorium. Rotschwarze Fahnen werden geschwenkt, Pappschilder und Sprechchöre warnen vor Islamophobie, Homophobie, vor dem KA KA Kapitalismus, und den Nazis. Autos haben wenig Platz und die Scheiben bleiben auch ohne Bretterschutz ganz und sicher ist, daß nichts und niemand sicher ist. Schon gar nicht hier. Alleine dies derart zu feiern ist, in einer Welt der Rückwertsfans und Festhaltefreaks, schon ziemlich berlin.