DER TRAUM VOM NICHTFLIEGEN

Nichts ist mehr einfach. Nichts bleibt lange unbestritten, oder eindeutig in diesen Tagen. Alles steht in Frage, was wir Menschen jemals erreicht haben. 

Vor vier Tagen erklärte der ipcc Weltklimarat, dass sich die gesamte Menschheit von ihrem Ernährungskonzept verabschieden muß, sonst drohe uns der Untergang. Vor zwei Tagen erfuhren wir, dass in den Wäldern der Welt über die Hälfte der Tiere, die dort vor 30 Jahren noch lebten verschwunden sind. Es ist wahrscheinlich, dass die Taktung der Hiobsbotschaften in nächster Zeit noch zunehmen wird. 

Ambivalenzen jagen einander. Der Hauptbaustoff des Bootes mit dem sich Greta Thunberg nun über den Atlantik aufmacht ist Karbonhaltig und bei hohem Energieaufwand gefertigt worden. So manche Schüler*innen, die für Fridays for Future auf die Straße gehen, schlagen sich anschließend bei MC Donald den Magen voll und lassen sich von Montag bis Donnerstag in den SUV’s ihrer Eltern zur Schule kutschieren (heisst es). Wenn wir alle keine Mangos und kein Soja mehr essen würden, um Schwerölbetriebene Containerschiffe zu reduzieren, würden die armen Soja- und Mangobauern und Bäuerinnen in den armen südlichen Ländern noch ärmer werden.

Jetzt wird von vielen Medien, die von ganzseitigen Anzeigen für die SUV’s leben, mit denen die Eltern der FFF-Schüler*innen ihre inkonsequenten Bälger zur Schule hofieren, die dann von besagten Medien deswegen kritisiert werden, kritisiert, dass Greta Thunbergs Entscheidung mit dem Boot statt „ganz normal mit dem Flieger“ zur Klimakonferenz nach New York aufzubrechen, doch ein wenig übertrieben sei. 

Ist das noch verhältnismäßig?

  • Heißt das, dass wir jetzt wieder ins 18 Jahrhundert zurückkehren müssen?
  • Macht sie etwas derart Radikales nicht eher zum weltfremden Superstar?
  • Wie käme sie denn ohne so ein Hightech-Segelschnellbot in 14 Tagen über den Atlantik?
  • Währen nicht zwei Flugtickets für Sie und Papa verzeihlich gewesen, bei all dem was sie schon tolles für die Umwelt geleistet hat.

Ich kenne Greta Thunberg und ihren Papa nicht. Aber ich halte das was diese beiden sagen für nachvollziehbar und integer. Sie sagt, jede ihrer Handlungen die direkt, oder indirekt die Erderhitzung fördere, bereite ihr seelische Schmerzen. Insofern ist ihre Entscheidung als selbst ernannte und von sehr vielen anerkannte Vertreterin aktiven Klimaschutzes, zur großen Klimakonferenz mit einem Segelschiff zu fahren, in erster Linie konsequent. 

Ob sie nun von Klimaleugner*innen deswegen ausgelacht wird, oder weil sie ausnahmsweise mit dem Flugzeug geflogen währe verhöhnt, scheint sie da wenig zu interssieren. Zum Star wurde sie längst von uns gemacht mit allen Nebeneffekten, die so eine Beförderung mit sich bringt. Aus diesem Grund wird ohnehin alles was sie tut oder lässt von aller Welt in die mediale Pro- und Kontrasuppe gerührt. Greta Thunberg erklärt uns nicht was falsch und richtig ist, sie verweist entspannt auf die Wissenschaft. Und der Hinweis es nach tausenden von Jahren grenzenloser Selbstbezogenheit und Impulsivität mal mit dem Verstand zu versuchen, scheint mir nicht der abwegigste. 

Interessant, auch die Reflexe mit denen erneut auf die Entscheidungen dieses bemerkenswerten Mädchens reagiert wird. 

  • Ein bisschen Fliegen, noch dazu mit gutem Grund ist doch nicht so tragisch… 
  • Mann kann alles übertreiben…
  • Müssen wir jetzt alle wieder mit der Pferdekutsche in die Arbeit fahren…

Das was viele scheinbar um jeden Preis vermeiden wollen, ist die unausweichliche Komplexität, die wir Menschen doch selbst geschaffen haben. So gern wir es auch hätten, wir werden keine einfachen Antworten finden. Stattdessen ist alles was jeder Mensch tut oder lässt, ob Star, ob reich, ob westlicher Standard, oder armer Mangobauer, ob Populist*in, oder Aktivist*in, ob regierend oder konsumierend, immer auch zweierlei. Zum einen aus mehr oder weniger Verantwortung für den Planeten generiert, zum anderen ein Statement.

Solange ich in diesen Zeiten noch nach einfachen Antworten verlange, oder solche anzubieten habe, ist es kaum möglich den Prozess der Wandlung den wir jetzt beschreiten müssen, mitzugehen. Geschweige denn mitzugestalten. So ist es ein hoffnungsvolles Zeichen, wenn ein Mensch, ein Kind indes, unbeirrt von reflexiven Unkenrufen ihren eignen Antworten auf unser aller Fragen vertraut. Zumal diese meines Erachtens die zielführenden sind, wenn es darum geht die Katastrophe abzumildern die wir Menschen angerichtet haben. 

Was wir gezeigt bekommen ist; Da ist ein Mensch der alles in seiner Macht stehende tut um jede weitere Belastung des Planeten zu vermeiden. Er nimmt dafür alle notwendigen Strapazen in kauf. Geht dafür große Risiken ein. Gibt alles auf was er davor für wichtig hielt, für unverzichtbar. Stellt alles hintan um neue Wege zu finden zu Leben ohne alles zu zerstören. Statt Menschen, die dieser Suche ernsthaft folgen, zu maßregeln, zu bevormunden und auszulachen, sollten vermutlich die allermeisten von uns lieber mal ganz still sein.

OKTOBERFEST

Nun bin ich mit dieser kleinen Geschichte ein bisschen zu spät, denn die Wies’n ist rum. Doch vielleicht gehört das auch so, weil es auch in der Geschichte darum geht, dass wir alle mit allem vermutlich ein bisschen zu spät sind.

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DAS MISSVERSTÄNDNIS 

Mirabella starrte fassungslos ihren Schuh an. Der schwarze Schnürschuh blickte stielvoll und echtledrig zurück. Vorwurfsvoll, archaisch und ebenso unentspannt wie Mirabella. Das bröckelige schwarzbraune Relikt aus irgend einem Tier gefertigt, dessen Name Mirabella sich einfach nicht merken konnte und das, wie die meisten Tiere, längst ausgestorben war, war kaputtgegangen. Einfach so, ohne, dass sie grob gerissen, oder die Schnalle die sie in der anderen Hand hielt aggressiv verdreht hätte. Einfach so, weil der Schuh so alt und dieses „Leder“ so hart und unflexibel geworden waren.

Sie erinnerte sich noch wie ihre schöne Mutter ihr den Schuh damals überreicht hatte beim Picknick an der Isar aus dem grellen Licht raus. Das helle Haar hatte das Licht ganz eingefangen. Sie, ich, die Mutter, der Carlo und der Marius auf der geblümten Decke draußen am Pullacher Strand, wo noch nicht viel los war Mitte März. Das Picknick war zu Ende und Marius hatte sein Erdbeermarmeladenbrot zum Teil im Gesicht, zum Teil auf seiner nackten Haut verschmiert. Es war Mirabellas Geburtstag gewesen und ganz stolz war sie, weil die Mutter ihr das große Paket in Zeitungspapier überreichte aus diesem grellen Gegenlichtschein der Sonne, in dem sie kniete. Im Karton lag das Dirndl und die Schuhe.

„Viele sind nicht übrig von unserer Familie…“ hatte die Mutter ein bisschen traurig gemeint. „Doch dafür ist es ganz schön alt. Die Oma hat’s bekommen als sie Volljährig wurde. Dann ich und jetzt du. Schön nicht?“ Marius wollte am Stoff ziehen, aber das ließ Mirabella nicht zu. Ihr Bruder war erst Vier und würde den schönen blauen Stoff mit seinen Marmeladenfingern achtlos ruinieren.

15 Jahre später wurde sie doch noch hektisch, schob den Schuh über ihren rechten nackten Fuß und drückte und zog und knotete in jäher Verzweiflung die Riemen in allen möglichen Varianten um ihren Knöchel, in der verzweifelten Hoffnung den entstandenen Schaden zumindest notdürftig kaschieren zu können. Da riss ein weiteres Stück ab.

Mirabella saß auf dem Betonsockel der klimaneutralen Betonkabine unter runder, milchig glimmender LED-decke, in schönem blauen Dirndl mit weißem Blumenkettenmuster, riss und rupfte und zerrte den Schuh wie verrückt geworden in Stücke und weinte bitterlich los.

Das wurde nichts mehr. War ihr lange klar. Sie hätte die Schönste sein können. Wie damals sicher ihre Mutter, und davor sicher ihre Großmutter die Schönsten waren auf der Wies’n. Von allen Madeln die Schönste.

Als beide Schuhe ganz und gar zerstört um den Sockel verteilt lagen, zog sie aus dem großzügigen Ausschnitt zum Dirndl gedachtes Spitzentaschentuch und trocknete damit die Tränen. Das nimmerweißes Tuch wurde ganz schwarz vom Tränenliedschattenmisch und segelte wie schwerelos in den Schuhstückeverhau. Mirabella stand dann auf und stand da. Stand barfuß in ihrem zerbröselten Traum und begann zu frieren.

Außerhalb des Klimabunkers fror niemand. Vor dem stehend warf sie letzten Blick ins Innere, das wieder gänzlich sauber war. Allen Dreck hatte sie eingesammelt und in den kleinen Rucksack verbracht zusammen mit ihrem Alltagsgewandt. Denn zusätzlich zahlen wollte sie nicht auch noch für Vermüllung öffentlicher Anlagen. Schließlich wusste die Stadt immer wo sie war, alles was sie tat. Über alles wusste die Stadt alles, denn ihre Augen waren überall und immer offen.

Das Madel baren Fußes, zog sich den Atemschutz über, befreite das helle Haar, legte die Gummis darunter und   ging dann schnellen Schrittes über den gerissenen Asphalt. Der war schon noch recht heiß. Noch immer aufgeladen von der Sonnenglut des Vortages. Und die Sonne schlich schon wieder hinten am Horizont den Tag hoch. Drohte sich an mit orangrotem Flimmern über München.

Um die Zeit wahren die Straßen ganz voll Menschen, weil’s so früh am Tag gerade noch erträglich war mit der Hitze. Längst wahren das mehr Schwarze als Weiße. Auch wenn der Unterschied hinter den schmutzig grauen Atemmasken nicht immer leicht zu erkennen war. Mirabella erkannten den Unterschied immer. Dank der neuen Regierung durfte man das ja auch nun endlich wieder sagen, ohne verachtet zu werden von allen. Schwarze! Die Regierung gab ihr ja auch Recht wenn sie sagte, dass die Schwarzflut Schuld war an allem. Als Mirabella klein war kamen sie. Erst tausende dann Millionen. Viele von ihnen wurden schon im Mittelmeer versenkt von Frontex und den EU-Streitkräften die den Kontinent bewahren wollten vor der Menschenwelle. Doch gelungen ist es nicht. Im Laufe der Zeit kamen doch Millionen vom Süden in den Norden hoch. Über die Alpen kamen die und von sonst wo her. Krüppel und Kinder und Frauen. Vor allem Frauen. Die meisten gesunden Männer, so hieß es, sind wohl in den Kriegen draufgegangenen die überall tobten. So viel Krieg gab es auf der Welt wie noch nie davor. Grenzkriege, Wasserkriege, Landkriege, Bürgerkriege. Mirabella war keine Politische. Sie hatte genug zu schaffen in ihrer kleinen Mirabellawelt. Die ganzen Kriege bei den Schwarzen waren ihr eigentlich wurscht. Die schwarzen Männer sollten nur wegbleiben. Die Afrikaner, Spanier, Italiener, Portugiesen hatten doch in ihrer Kultur keinen Respekt gelernt. Behandelten alle Frauen wie Dreck. Nur das die Welt um den Äquator rum gar nicht mehr bewohnbar war und alles darum zur Wüste wurde, das war ihr gar nicht einerlei. Denn wegen dem kamen sie alle hoch zu ihnen. Und dann versauten sie einem den Tag, weil sie rempelten und stießen von überall und allen Seiten.

Bald würd ihr das besser gehen. Bald würde sie wild tanzen mit lustigen Burschen auf dem guten alten Oktoberfest. Der schönen trauten Wies’n. Letztes Stück vergnügen in all dem Grau und rotorangem Flimmern. Den schwarzen Menschen versuchte sie besonders auszuweichen. Aus den Kindern, die vor Jahren kamen wurden ja schon junge Männer. Die wollten ihr nur an die Wäsche. Das war deren Kultur.

Plötzlich stand einer vor ihr. Kein Schwarzer, ein Weißer. Ein Polizist. Die wahren überall. Die passten auf sie auf, dass die Schwarzflut nicht machen konnten was sie wollte.

„Die Reichenbachbrücke ist gesperrt, da ist Terroralarm. Wenn sie auf das Oktoberfest wollen müssen sie über die Wittelsbacher.“ Mirabella konnte das Gesicht des Polizisten gar nicht sehen durch das dunkle Schutzvisier vom Helm. Und die Stimme des Mannes, sie glaubte schon, dass da ein Mann vor ihr stand. Auch wenn sie sich nicht sicher sein konnte bei der dicken Panzeruniform. Auch der Ton wurde durch das Atemschutzgerät ganz verzerrt. Trotzdem wird es wohl ein freundlicher weißer Mann gewesen sein, der da vor ihr stand. Erst jetzt begriff sie, dass er gar nicht nur vor ihr, sondern vor einer ganzen Menschentraube stand, zu der sie auch gehörte. Alte weiße Menschen in alten speckigen Lederhosen und alten ausgeblichenen Dirndln mit traurigen müden Augen über dem Atemschutz. Die meisten drehten sich um und gingen einfach weg. Der Weg über die Wittelsbacher war ihnen dann wohl doch zu weit.

„Mirabella Wagner! Wegen der Verunreinigung des Klimabunkers buchen wir eine Mahngebühr von 30 Globos von ihrem Bürgerkonto ab“ Jetzt hatte sich der Stimmverzerrte doch noch ganz an sie gewandt.

Mirabella war ganz erschrocken. „Aber ich hab’s doch wieder weg gemacht, alles.“ Ihr schönes bleiches Gesicht sah ganz zerknautsch aus. Wurde zur bitteren Maske aus Unverständnis. Das Visier sah sie an. „Wir mussten Restbestände beseitigen“ erklärte der Panzerpolizist, wandte sich ab und ließ sich von der schwarzgrauen Masse schlucken.

Ihre Füße schmerzten grauenvoll, doch nichts würde sie abhalten. Nicht die 30 Grad die’s schon hatte und die schnell mehr wurden. Nicht der Säuregehalt in der Luft, der schon wieder den Grenzwert erreichte. Nicht die kreischenden Baumaschinen die neue Aufsätze auf die Häuser wuchteten, und Aufsätze auf die Aufsätze, die mit Stahl und Müllstoff verklebten und verspannten und deren Hämmern und Pochen und Sägen alles übertönte.

Heute war Wiesntag. Da hatte sie so lang gespart drauf. Da hatte sie sich doch so lange drauf gefreut. Und da war dann auch die Brücke.

Die Isar war ja nicht mehr wirklich ein Fluss unter der. Das war ein grauer Rinnsal der nach Fäkalien stank und Chemie. Weil’s seit Jahren keinen Schnee mehr gab der zu Wasser hätte werden können, keine Gletscher. So gut wie keinen Regen mehr. Die Schwarzflut hatte ihr Unglück mitgebracht.

Warum die Brücke fast leer war konnte sie nicht sagen. Sie schaute zum Himmel der ganz bunt wurde und schön wie jeden Morgen seit Jahrzehnten. Schlierenwolken verdampften schnell im heißen Kommen der Sonnenglut die aufzog.

Da rempelte sie wer hart an, dass sie fast gestürzt währe auf den aufgerissenen Asphalt. Und noch einer von rechts, von links noch einer. Sie sah sich um und sah sie wegrennen die Jungs. Rüpel, Halbstarke, ohne Schutzmasken mit schmutzigen Gesichtern. Vermutlich die Nacht auf der Wies’n verbracht. Ganz voll mit Bierersatz und Übermut. Einer sah sich im Rennen um. Sah ganz erschrocken aus, weil sie Mirabella fast umgerannt hätten. Ach ja, die Jugend. So viel hatten die noch vor sich. So viel mussten die richten was die Schwarzen angerichtet hatten. So schnell rannten die weißen Jungs, so stark und übermütig wahren die, dass Mirabella laut lachen mußte und rufen.

„Ihr seid schon so. Ihr müsst schon Obacht geben auf die anderen“

Dann weiter. Weiter über die Brücke. Zur Wies’n hin.

Über der Brücke schob jetzt die Sonnenglut in die Stadt. In ihrem grellen Kommen schwamm eine Silhouette ihr entgegen. Wie eine Fata Morgana, oder einst ihre Mutter an der Isar mit dem Paket in der Hand in Zeitungspapier gewickelt. Ein verschwommener Geist. Ein Frauengeist im Kleid. Mit wild zerzausten Haaren. Dunkelschwarze Frau kam ihr entgegen auf der Brücke und in dem schwarzen Gesicht hatte sie ein Lächeln für Mirabella aufgespannt. Warum die hier alle keine Schutzmasken trugen? Beim näherkommen erkannte Mirabella auch wo’s herrührte das Lächeln. Ihre Dirndl waren ja fast die selben. Nur, dass die Frau ganz schöne Schuhe trug.

So wenig Menschen auf der Brücke. Der Atem der Frau war ganz schwer, rasselte ungefiltert durch giftige, keimige Luft.

Mirabella war es gleich, dass das Bier wieder furchtbar schmecken würde, weil’s ja nur noch raffiniertes Urin war, das aber prächtig knallte wenn man zwei drei Maß bewältigt hatte. Sie würde sich besaufen heute, wie schon lange nicht mehr. Im isolierten Bierzelt könnte man auch über Mittag sitzen ohne draufzugehen und da bliesen einem zünftig die Menschen und Maschinen auf echten Blechblasinstrumenten, die Flausen aus den Köpfen. So Vollgestopft würd’s sein, dass keiner auf dem Boden schauen würde können um zu sehen, dass Ihr die Schuhe fehlten.

Die Schwarzfrau im Dirndl blieb dann vor ihr stehen. Direkt vor ihr. Und jetzt sah Mirabella das das kein Lächeln war im Dunkelgesicht. Eine Verzweiflung war das. Ein Schmerz wie eingebrannt für immer und für alle Zeit. Ihr Dirndl, war dann auch ganz anders als das ihre – ganz zerstört. Da blieb auch Mirabella stehen. Zum Teil vor Verblüffung, zum Teil aus Mitleid, dass aber auch hilflos war so wie die Frau, mit den schwarzen wilden Haaren in dem blauen Dirndl, das große Löcher hatte, das zerrissen war und schmutzig. Was war da geschehen auf der Brücke. War die Frau der Grund warum kaum keiner auf der Brücke lief? Waren all die Leute weg, weil hier was geschehen war, was keiner sehen wollte, keiner miterleben?

Sie bückte sich, die Schwarze. Als würde sie sich verbeugen vor Mirabella. Für all das Leid, all den Dreck und die Hitze und das Elend um Vergebung bitten, bei der weißen Schönen. Zog dann die Riemen an ihren Schuhen auf. Die echtledrigen, die mal die Haut von einem Tier wahren, das längst ausgestoben war. Als sie wieder wackelig vor ihr stand und Mirabella zitternd ihre Schuhe reichte, wie ganz selbstverständlich, da wurd’s plötzlich still in der Stadt. Als würd sie dann doch mal atmen müssen. So wie Menschen manchmal ganz still werden, die immer nur reden und reden, oder Kämpfen und kämpfen, oder weinen und weinen und dann doch mal atmen müssen. Vor Mirabella die schwarze Schöne, blickte sie an aus ihrer Verzweiflung heraus. Blickte durch kondensierende Tränen und riesige Liedschattenpfützen um die Augen. Wie aus einem Horrorfilm blickte die sie an und ihre Lippen wollten nicht aufhören zu zittern.

Mirabella nahm die Schuhe. Die Finger von vier Frauenhänden die sich durch warme Riemen berührten die sie berührten. Dann kehrten die dunklen Hände zurück zur dunklen Frau und zitterten nicht mehr.

„Danke“ konnte Mirabella hauchen. Gar nicht’s sonst gelang ihr jetzt. Aber „Danke“ konnte sie hauchen. Die schwarzen Frau wollte all das wieder gut zu machen was ihr Volk über das Nebelmeer gebracht hatte. Ein Paar Schuhe für den Untergang des Abendlandes. Mirabella reichte das. Weil die Schuhe auch zum Dirndl passten. Weil die Frau jetzt weiter stolperte, weil’s ihr wohl auch reichte für heute. Die Stadt machte weiter mit ihrem Brummen und Knallen, und Donnern und Rasseln und Sägen und Mirabella zog sich ihre neuen Schuhe an, die passten.  Dann schritt sie stolz und schön zur Wies’n hin. Jetzt würde sie die Schönste sein.

UTOPIE

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Letztens an Ostern fand in Potsdam die zweite Utopienbrauerei statt. Diverse Menschen kamen zusammen und berichteten von ihren Utopien. In diesem Rahmen entstand „Aufgewacht“.

Eines Tages eine Biographie zu schreiben scheint mit indes ebenso utopisch wie vieles was ich in diesem erdachten Auszug zu berichten habe. Allein in Anbetracht realistischer aktueller Perspektiven an eine Ära der Erlösung zu denken, fühlt sich im wahrsten Sinne des Wortes vermessen an. Ähnlich der Behauptung, ich könne virtuos mit rohen Eiern jonglieren. Alle die mich ein bisschen kennen, können sich die Sauerei vorstellen die dieses Kunststück hinterlassen würde. Und alle die, die Welt und die Menschen kennen, wissen um die Sauerei in der wir in Wahrheit in absehbarer Zeit erwachen werden. Und doch möchte ich euch „Aufgewacht“ nicht vorenthalten. Auch weil vermessen immer ein bisschen Punk ist. Und weil sich Punk so gut auf (r)evolution reimt, oder nicht?

In dieser meiner Utopie tauchen übrigens ein Paar Ideen und Menschen auf die Ostern in Potsdam dabei wahren, weil ich’s dort vortragen durfte. Du kannst Dir aber sicher sein, wenn Du „Aufgewacht“ liest wirst auch Du darin auftauchen. Auch wenn ich Dich nicht namentlich erwähne, ich hab an Dich gedacht beim schreiben, mit Dir getanzt am Ende.

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AUFGEWACHT

Auszüge aus meiner Biographie

Heute ist mein 80ter Geburtstag. Und in alter Tradition wird heute gefeiert. Jeder 10te! Manche Traditionen machen auch mir Freude. Allerdings stehe ich erst noch ein paar Stunden in der Ausgleichsimulation. Zusammen mit ein paar hundert anderen älteren Menschen, auch ein paar wenige jüngere, in der Arena, altes Backsteingebäude direkt an der Spree, und arbeite pö a pö meine Schuld ab.

Wir zerlegen sorgfältig all die Dinge mit denen wir Jahrzehntelang Welt und Menschen an den Rand des Abgrunds manövrierten. Überall auf Erden stehen jetzt Ausgleichssimulationszentren und laufen sogenannte BS (balancing-simulatuion’s)-Projekte. Hier in der Arena stapeln sich in haushohen Regalen unzählige Überflüssigkeiten aus Zeiten massiver struktureller Gewalt. Einst unterschätze Energiefresser wie Wasserkocher, Rührstäbe, Toster, elektrische Zahnbürsten, Soundgeräte, Plasmabildschirme, Spielekonsolen, Fernseher, Staubsauger, 1000 Arten von elektrischen Koch und Küchengeräten, elektrisch verstellbare Fernsehsessel, E-Türöffner, E-Bilderrahmen, Fernbedienungen, Babyphone, batteriebetriebene Milchschäumer, Dosenöffner, fahrstuhlgroße Kühlschränke, E-Bords, E-Roller, E-Schnickschnack, scheinbar unverzichtbar seinerzeit, oder einfach nur originell und irgendwie praktisch. Und überall, wie flachbunte Invasionen aus Zeiten Kollektiven Irrsinns, Mobiltelefone, Tablets, Computer.

Eine Frau, scheinbar älter als ich, scheinbar „Schuldbeladener“ niedergeschlagener steht auf ein mal neben mir, während ich mit filigranen Werkzeug winzig kleine Kupferschrauben aus einem Ventilatormotor drehe und diese in entsprechendes Behältnis klimpern lasse.

„Ich hatte das Periodensystem der Atome gleich nach der Schule wieder vergessen.“ erklärt sie mir. Ich dachte alles andere ist wichtiger, als Physik. Jetzt wissen wir es besser, nicht war. Eisen, Kupfer, Kohlenstoff, Gold, all diese schweren Metalle und Grundbausteine organischen Lebens wurden in explodierenden Sonnen erbrütet. Homöopathische Mengen davon existieren im gesamten Universum und wir haben Zierschnallen an Handtaschen daraus gemacht und Schrauben für Ventilatoren. Unsere Familie betrieb eine Autowerkstatt.“ ergänzt sie etwas unvermittelt, und legte noch drei Ventilatoren zu den meinen.

„Hat es einen Grund, dass du dann keine Autos re-ver-rohstoffst?“ frag ich sie.

„Die werden doch alle zusammen mit den Flugzeugen auf den ehemaligen Flughäfen re-ver-rohstofft. Ich fahr nicht gerne mit den Öffentlichen. Ich traue dem KIV nicht. Der BVG war mir lieber. Ich wohne hier um die Ecke, weißt du. Ob ich hier oder da meinen Ausgleich leiste, kommt doch auf’s Selbe raus.“

Ich lächle sie an. Meine Vermutung ist, dass wir hier nicht wirklich etwas -ausgleichen-. Den epochalen Schaden den im Besonderen die Spezies Mensch in den letzten 300 Jahren auf dem Planeten angerichtet hat und im speziellen die damalig so genannte Wohlstandsgesellschaft, ließe sich nicht durch ein lebenslanges Ehrenamt im Re- und Downcylingsektor wieder ausgleichen. Wir hatten die Welt karkassiert. Erst in duzenden oder mehr Generationen, bestand die Hoffnung, ein Wenig wieder gut zu machen. Doch ob jemals die Gletscher zurückkehren, die Permafrostböden, die Jahreszeiten, die einstigen Küstenregionen, der Schnee, die unzähligen Inseln, wird wohl für Jahrhunderte ein Rätsel bleiben. Sicher ist, die Nashörner kehren nicht zurück, die Tiger, die Mauersegler die sich im Fluge Paaren konnten, die Eisbären, die Wahle und Delphine und Elefanten. Millionen von Tier- und Pflanzenarten werden nie zurückkehren.

Dennoch, die täglichen Arbeitsstunden in den BS, in denen wir die beschämenden Überreste unserer fatalsten Epoche auseinandernahmen und re-ver-rohstofften, gab uns doch zumindest das Gefühl einen winzigen Teil unsere Verbrechen wiedergutzumachen.

Gerade hier im einstigen Deutschland hatten wir ein wenig Übung darin, uns unserer schuldbeladenen Vergangenheit zu stellen. Wie schon ein mal, kamen uns unsere Verbrechen während wir sie begangen nicht wie Verbrechen vor, sondern wie das ganz gewöhnliche Leben. Zielführende, notwendige, selbstverständliche Alltäglichkeiten. Und wie schon einmal wussten wir es doch in Wahrheit besser. Setzen unser außerordentliches Talent ein, uns die Dinge „schön“ zu reden und zu denken, um drohende Konsequenzen zu verdrängen. Der jetzige Unterscheid zu den offensichtlicheren Verbrechen, beispielsweise denen, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts stattfanden, war nur, dass es im Anschluss an die letzte, sehr viel größere Katastrophe die wir zu verantworten hatten, keine Gerichte gab. Und weder während, noch nach unserer Verbrechen, gab es Kläger*innen. Schlicht deswegen, weil alle die gleichen Verbrechen begangen hatten. Nun blieb nur denen, die wussten, wie heilsam es seien konnte, zumindest ehrlich zu versuchen seine Schuld zu begleichen, freiwillig in den BS zu arbeiten.

Ob an Land, auf Kontinenten aus Plastik die in den Ozeanen trieben, oder unter Tage in tieferen Erdschichten die abgetragen und aufwändig entgiftet werden mussten, da die Giftstoffe tief und für Jahrmillionen im Fleisch der Erde saßen. Die künstlichen Intelligenzen hatten gottlob Verfahren entwickelt selbst mehrfach raffiniertes karbonhaltiges Material hochprozentig zu re-ver-rohstoffen. Der Aufwand indes, um ertragreiche Mengen z.B. für medizinische Zwecke aus dem sträflich missbrauchten Öl und Naturressourcen zu gewinnen, blieb immens.

Vor Jahrzehnten arbeiteten die meisten Menschen um Geld zu verdienen und sich damit aktiv an der großen strukturellen Gewaltorgie gegeneinander und gegen die Erde als solche zu beteiligen. Jetzt arbeiteten die meisten um ihre Schuld so weit als möglich auszugleichen. Es gab Menschen, die machten fast nicht’s anders mehr.

„Wahrst Du auch in der Wirtschaft tätig?“ will die Frau wissen. Auch sie versucht ein Lächeln. Ich schüttle den Kopf.

„Zwischen meinem 18. und meinem 30. Lebensjahr bin ich, gefühlt, so gut wie jeden Tag mit dem Auto gefahren. Ohne auch nur nachzudenken, riesige Strecken. In jungen Jahren knapp 60 Kilometer von Weilheim nach Starnberg beispielsweise gern mal hin und zurück, nur um einen Hamburger beim neuen trendy Fastfoodanbieter zu kaufen. Ich war begeisterter Kaffeetrinker, Erdbeeren im März, tonnenweise Schokolade, schicke Klamotten, alles immer möglichst billig. Fleischesser. Auch später als ich sehr genau wusste, was ich mit all dem anrichtete, habe ich zwar bewusster und sehr viel weniger konsumiert. Dennoch kam ein Leben unter 1 ½ – 2 gah (globaler Hektar) für mich nicht in Frage. Wieso hätte ausgerechnet ich auf das bisschen Überfluss verzichten sollen? Andere wahren doch viel schlimmer. Wie wir alle hab ich zu spät begriffen, dass auch dieser Gedanke einer der Zähnchen des Dosenöffners war, mit dem wir an der Büchse der Pandora schraubten.

Sogar heute Abend gibt’s Fisch. Freilich aus der Spree geangelt.“

Ich höre wie ich leiser wurde. Beschämter. In den Weltmeeren ist fischen mittlerweile geächtet. Die einzige Chance dass sich dort überhaupt noch etwas regenerieren konnte. Wir hatten die Komplexität des Universums Ozeane tatsächlich nie wirklich begriffen. Die KI’s brachten Begreifen. Wie bei so Vielem.

„Nächtelang saß ich vor zwei großen Bildschirmen. Hab mir Serien und Filme reingezogen deren Produktionen Unmengen von Ressourcen kosteten. Das übliche eben.

Ich feiere heute Abend hier in der Nähe meinen Geburtstag. Möchtest Du nicht auch kommen?“

Jetzt gelingt ihr ein vollständiges Lächeln. Fremde Menschen einzuladen, war völlig in Ordnung.

Irgendwann am Nachmittag, verlasse ich nach einigen Stunden harter Arbeit die Arena. Die heiße Dezembersonne heißt mich willkommen. Ein Riesenschwarm Staare flattert auf und umkreist das Gebäude. Ich seh einige Menschen in der Spree schwimmen. Höre Kinder lachen.

Den KI’s war es gelungen das uralte Kanalisations- und Abwassersystems Berlins aufwändig und unauffällig zu modifizieren. Wie vielerorts besaßen nun die öffentliche Gewässer der Stadt Trinkwasserqualität.

Ich schwimme wie viele einfach in Klamotten zum anderen Ufer. Klettere dort aus dem friedlichen Fuß, durch einen kleinen Wald dahinter tiefer in die Stadt zurück. Bei 35 Grad im Schatten war alles schnell wieder trocken. In und um die überwucherten bewohnten Ruinen, einstig protzige Gebäude, die wie ein Großteil der Rest der Stadt verschwunden sind unter dichter grüner Baum- und Sträucherdecke, zwitschert es laut und flattert es wild.

Ich schlendere auf einer der offenen Strecken entlang. Geräuschlos und ein wenig wie friedliche Tiere weicht mir ein ums andere Mal ein Fahrzeug aus, still autonom und mit effizienter Brennstoffzelle ausgestattet. Manchmal unbemannt, manchmal dösen Stadtarbeiter darin. Ein Krankenwagen rauscht geräuschlos von hinten an mir vorbei. Plötzlich umfliesst mich ein Schwarm von Fahrrädern. Bizarre Eigenbauten aus Schrottresten des Anthropozäns gemischt mit hocheffizienten Hightech aus KI Produktion. Hunderte. Die Menschen auf den Rädern kichern, plappern, winken und lächeln mir zu, ein paar haben sogar noch alte Klingeln die längst zu nichts anderen mehr taugen als zum freundlichen Grüßen. Der Fahrradfluss, der mich zu beiden Seiten umspült wollte gar nicht mehr abreißen. Ich drehe mich grinsend um, um einschätzen zu können wie lange ich noch gezwungen bin geradeaus zu gehen. Ich erinnere mich wage an Zeiten als ähnlich große Menschengruppen von nur einer Hautfarbe zu sehen waren. Auch das ist längst Vergangenheit. Schon vor der Aufgabe der Grenzen ob der Millionen die kamen aus brennenden, tobenden, stürmenden Welten.

Plötzlich löst sich der Fahrradschwarm auf. Zerstäubt in kleine Gruppen und Einzelne urbane Reiter*innen die in rundum begrünte Seitenstrassen und Gassen verschwinden. Implantierte Neuroschnittstellen potenzierten nicht nur unsere Schwarmintelligenz, sie halfen uns trotz all den schrecklichen Dingen die vor Jahren geschehen wahren, bei Verstand zu bleiben. Vor dem globalen Kollaps standen die Chancen gut, das die Computer, sobald sie denn eigenständig zu denken begannen, die durchweg maligne Menschheit schlichtweg ausradieren würden. Doch wie so oft schlug die Evolution einen höchst überraschenden Haken und die KI’s beschlossen die menschlichen Defizite unterstützend auszugleichen. In massgeschneiderten Lernprogrammen wurde uns unser hochaggressives Potential offenbart. Und das überall sichtbare Zerstörungswerk brachte, zumindest eine Zeit lang, selbst die hartnäckigsten Zweifler zur Vernunft. Endlich dachten und handelten wir langfristig, umsichtig und friedensstiftend. Diese Vorm von Arbeit die vor dem Kopals nur so wenige taten, taten nun fast alle die übrig geblieben waren.

Ein Mädchen-Junge skatet allein, aber nicht einsam wirkend sein-ihr Regenbogenschwert schwingend zwischen Strasse und Auffahrt einer Wohnbaracke an mir vorbei. Sie-er sieht mich, skatet zu mir rüber und blickt erwartungsvoll zu mir runter. Jetzt erkenne ich ihn-sie. Ein Hacker aus meiner Nachbarschaft. Ein’s dieser Kids, die aus alten Elektroteilen seltsame Module zusammenschraubten um damit den KI’s ihre Geheimnisse zu entlocken. Es hieß, das manche Hacker nun sehr genau wußten was vor dem Urknall war und nun nach Mitteln und Wegen hackten über etwas zu berichten für das es faktische keine Sprache gab.

„Kannst Du die reparieren? Sie-er hält mir eine alte Analogkamera hin. Ich nehm ihm-ihr das Antiquart aus der Hand, spiele ein bisschen damit herum und erkenne schließlich. “der Spiegel bleibt hängen was? Kenn ich das Problem. Ich mach sie dir wieder fit. Aber immer schön sparsam sein, mit den Chemos beim Entwicklen.“

„Willst du mich veraschen. Du bist die Generation die mit nichts sparsam war. Ihr habt die Welt gegrillt, nicht wir. Wir passen auf.“

„Du hast recht. Dich masszuregeln war scheiße. Tut mir leid.“

Mit einem breiten Grinsen wird mir verziehen. Ein Plönk mit dem Regenbogenchristall an meine Stirn scheint die Vergebung zu besiegeln. Das wir Alten uns bei den Jungen entschuldigen war das mindeste. Kann nicht oft genug passieren.

„Glückwunsch zum Geburtstag.“ spricht das Grinsen. Sie-er hat mein Implantat gehackt. Wahrscheinlich sogar in diesem Moment.

„Ich komm zu deiner Feier nachher“

„Nichts dagegen. Und wie machst du das?“

„Ich mach das nicht. Ich hab einfach nen guten Draht zu ein-zwei freien KI’s. Die mögen mich. Die reden mit mir. Mit dir nicht?“

„Nicht von allein. Viele haben Angst vor den KI’s. Viele von uns Alten. Das die deep learning systeme irgendwann die Schnauze voll haben könnten von uns Menschen und uns…“

„Ohne die KI’s geb’s uns längst nicht mehr, Alter. Und solange wir nicht wieder anfangen uns gegenseitig und die komplette Natur zu killen, ist alles gut. Bis später, ich bring’n paar Freunde mit.“

Weiter geht’s in Richtung temporäres Zuhause, nicht mehr länger als fünf-sechs Jahre irgendwo zu bleiben gehörte, neben der Utopei, zu den zahlreichen Tricks die wir nun kannten. Tricks die es friedlicher machten auf der Welt, kreativer, liebevoller. Es gab ja auch mittlerweile genug freistehende Möglichkeiten zu Wohnen. Und bei einer Jahresdurchschnittstemperatur von 30 Grad brauchte es weder Heizungen noch geschlossene Räume.

Auf den Dächern der Baracken haken ein paar kichernde Menschen, gerne auch mal nackt, in ihren Hochbeten herum. Sich hochprozentig selber zu ernähren war längst wieder, hartes aufwändiges Tagwerk das viel Zeit und Mühe kostete. Ich kannte jedoch niemanden die oder dem dies etwas ausmachte. Aus Demut und Verzweiflung war längst eine ursprüngliche Lebensqualität gewachsen.

Freie Flugühner gurren zufrieden während sie irgendwo ihre Eier legten, Langfällige Kuhfamilien zupfen Blätter von den Wänden, legen ausgeblichenes Graffiti frei und blicken mir neugierig nach, während ich gemeinsam mit einem schnüffelnden Fuchs über die hoch begraste und einsame Admiralsbrücke ziehe. Alles was nicht fliehen und kämpfen konnte wurde nicht mehr gegessen. Wer Fleisch wollte, ging in die Wälder und jagte Elche oder Wildschweine. Manche kamen nicht zurück, denn die Wildtiere hatten uns noch lange nicht verziehen. Das alles war kein Gesetz. Es gab keine menschengemachten Gesetze mehr. Wie bereits erwähnt, ein Großteil von uns wahr zu Vernunft gekommen.

Tausende von Insekten schwirren herum. Das feucht warme Klima hatte doch viele von ihnen zurückgebracht.

Allmählich tun mir dann doch meine Füße weh. Ich beschließe in nächsten Tagen meine Bußerituale ein wenig altersgerechter zu gestalten und zumindest mit dem Fahrrad zum re-ver-rohstoffen zu fahren. Nicht so viele Umwege zu machen.

Es dämmert als vor mir der Waldhügel der Hasenheide sichtbar wird. Der wächst, wild duftend und von krächzenden Krähenschwärmen umschwirrt, wie ein tropisch urbaner Regenwald aus der Stadt. Auf dem Weg hinauf bleibe ich stehen. Vor mir steht eine Wölfin. Neigt ein wenig den Kopf als würde sie mich auf „unserem“ Waldhügel begrüßen, erkännt mich und entläßt mit einer Bewegung ihre fünf Jungen aus ihrem Versteck. Die Familie zieht geräuschlos an mir vorbei, ich darf weitergehen. Die Wildtiere in den Städten schienen uns verziehen zu haben. Ich hatte noch nie von einem Angriff in Berlin gehört.

Als ich in fortgeschrittener Dämmerung endlich den höchsten der Hügel erklommen hatte empfängt mich der Klang wilder Musik, ausgelassenes Lachen und der Geruch leckersten Kochwerks. Unter meinem Baumhaus brännen drei bis vier bescheidene Feuer um die Kinder und Alten und Mittelalten tanzen und sitzen und spielen und schwatzen. Ein gutes Duzend alltäglicher Parkmusikant*innen mit Trommel, Celloridoos, Gitarren, Perkussion, Flöten und einem alten perfekt gestimmtes Klavier hatte sich wie zufällig auf dem Hügel eingefunden. Aktuell floute sich die Jam Session in einen prächtig tanzbar groofigen Etnohiphop zu dem mein Nachbarhacker und zwei seiner Freund*innen in neusprachigen Mixspeak rappen.

Ich will’s erst gar nicht glauben, aber unter dem Haus sitzt doch tatsächlich meine fast  100 jährige Mutter in einem überbordenden Kissenthron, der das zierliche Fossil fast vollständig verschlingt und ließt einer Traube Kinder und Teenes die an ihren Lippen hingen, aus einem Buch vor. Die Worte kamen mir bekannt vor. Sie hatte doch tatsächlich die beschwerliche Reise aus der Küstenregion um Brandenburg auf sich genommen, um mit uns zu feiern. Ich will mich gerade aufmachen sie zu begrüßen, als zwei weitere Gäste vor mir auftauchen.

„Unser Geschenk für Dich.“

Julian und Marie flankieren mich, greifen mir unter die Arme um meinen strapazierten Beinen ein wenig Pause zu gönnen. Die Geschwister, sind bekannte Schreiberlinge und wunderbare Freunde. Der Buchdruck gehört zu den wenigen weiter florierenden Industriezweigen. Selbstverständlich gab es auch hier nur noch Cradle to Cradle Produkte. „Der Wert der Gleichwertigkeit?“ will ich wissen während mich die beiden durch die Leute begleiteten. „Seit wann ist es raus?“

„Seit ein paar Tagen.“ freut sich Julian.

All die lieben Menschen zu sehen, die Freunde zu begrüßen, die Küsserei… Ein Spalier der Begegnungen und Begrüßungen, gibt mir den Rest.

Ich befreie mich aus dem lebenden Rollator und lasse mich ebenfalls in einen kapitalen Kissenberg plumpsen. Das lächelnde Geschwisterpärchen nickt verständnisvoll und Julian wird von seinen eigenen Kindern aus meinem Blickfeld getanzt. Da hält auch Marie Ausschau nach ihrer Familie und macht sich auf zu ihnen. Über mir wippen die bekerzten Lampions in den Bäumen und darüber, über den flüsternden Baumkronen funkelt ein prächtiger Sternenhimmel. Ich denke darüber nach jetzt einfach zu sterben. Ein guter Augenblick. Und in eben diesem fragt mich mein Implantat, ob es einen eingehenden Anruf durchstellen darf.

So wenig Licht störte die Nacht, dass die Arme der Milchstrasse über uns funkeln können. Ich erlaube den Denkkontakt. „Wir haben ihren Neuroship zu einer Bombe umprogrammiert und werden in wenigen Sekunden ihren Kopf sprengen. Sie dürfen einen letzten Wunsch äußern“ Die Stimme meines Freundes klingt, als würde er neben mir sitzen. Stattdessen mußte er wohl gerade im schnellsten und mitweltschonendsten Transportmittel aller Zeiten auf dem Weg von Kinshasa nach Berlin sitzen.

„Niklas! Du sitzt nicht etwa im Hyperloop? Haben sie Dir nicht gesagt, dass das europäische Ende versehentlichen aufgelassen wurde und Du jetzt direkt auf den Mond geschossen wirst? Wie war’s im Rat?“

Niklas war einer der Vertreter der eurasischen Ratsmitglieder die sich gemeinsam mit den anderen zum quartalen Austausch getroffen hatten. Im Globalen Rat waren die Wissenschaftler*innen und Wissenschaftler seit Jahren fester Bestandteil der amorphen Regionen. Zuerst berichteten in der Regel die NaturwissenschaftlerInnen, brachten absolute Größen und unumstößliche Gesetzmäßigkeiten in Erinnerung mahnten bedenkliche Entwicklungen an und schlugen konkrete Handlungsoptionen vor die für das Wohle aller und der Mitwelt naheliegend wahren. Dann wurden menschliche Interessen eingebracht und abgewogen. Die Sinnhaftigkeit der genannte Reihenfolge war mittlerweile wirklich allen klar. In Zweifelsfällen wurden die KI’s zu Rate gezogen. In aller Regel begannen und endeten die Treffen mit einer Bitte-Danke-Entschuldigungsrunde.

Dieses Treffen trug den Titel, „Wie es ist, werden könnte und nie mehr werden darf“

„Vielversprechend. Erzähl ich dir später. In einer Stunde sind wir in Berlin. Gleich geht’s unters Mittelmeer. Die Musik ist ja geil!“

Die Mondin ging auf über dem Wald. Voll und hell und schön.

„Die kommen alle aus den Büschen und feiern hier mit uns. Das geht wohl noch’n Paar Tage. Wir feiern auch gleich in Cornelias rein und so…“

„Ick freu mir.“ endete mein Freund mit gewohnter Grinsestimme und verschwand aus meinem Kopf.

Ein weiterer Mensch rumst in meinen Kissenberg und knutscht meine Wange. Ihre Hunde, immer an ihrer Seite, schlabbern mir über’s Gesicht. „Muß deine alte Mutter jetzt sogar noch zu dir rüber kommen?“

Wir begrüßen uns, ein wenig so wie sich zwei altersschwache Dinosaurier begrüßten. Zwei sehr glückliche Dinosaurier. Sie erzählt mir, dass sich die Nachbarn um ihre Tiere kümmerten und sie statt mit dem Loop mit dem Schiff über das Haveldelta gekommen war, weil man da auf Deck rauchen konnte.

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meiner Mutter vor ein paar Wochen, als wir Getreidekaffee schlürfend auf der Dachterrasse ihres Hauses gesessen und auf die neue Küste ein paar Kilometer weiter geblickt hatten. Wir wahren uns einig darin, dass wir es eigentlich nicht verdienten so gesund so alt zu werden. Doch dank der modernen KI-Medizin lag das Durchschnittsalter mittlerweile bei 120 und die Generationen nach uns, hieß es, konnten wohl doppelt so alt werden. Es gab einige Gründe, weshalb der Rat und die KI’s derartiges zuließen. Das tragische daran war, dass sich nach dem großen Kollaps das Thema Überbevölkerung erst ein mal erledigt hatte. Ein erträglicherer Grund war, wir waren Zeitzeugen. Wir Alten wurden viel besucht, reisten viel um zu berichten, dozierten, unterrichteten. Wir wahren lebendes Gedächtnis der Epoche der Verirrung und der Dummheit. Geschichte war nun mehr denn je die Chance aus unseren Fehlern zu lernen.

Ob wir es zudem verdienten, glücklich zu sein? Manchmal ist es so. Heute zum Beispiel.  Fester Bestandteil dieses Glücks war es, jeden Tag zu arbeiten. Weniger für uns selbst, das war auch dank intelligenter Umfeldversorgung nicht mehr notwendig. Wir arbeiteten nicht für uns, wir arbeiteten an uns. Für die Wiedergutmachung und an der Heilung einer schwer verletzten Welt. Für einander und darum jeden Augenblick des Lebens wertzuschätzen.

So wie diesen, als auf ein mal all meine so sehr geliebten Freunde um uns sind, die beiden Saurier aus ihren Kissen ziehen und zum Feuer hin und uns zum tanzen zwingen. Die Kinder tanzen, die Jungen, die Alten, diverse Geschlechter, diverse Zustände, alle Farben des Spektrums. Das Bedauern, das Lachen, das Erstaunen und die Dankbarkeit um diese x-te Chance die uns alle hier und heute tanzen machte.

Die Musik war prächtig und tief im Wald auf dem Hügel heulte eine Wölfin.

 

https://www.youtube.com/watch?v=ZdjQVYFL8ms

https://www.youtube.com/watch?v=0r39TopOe4I

https://www.fussabdruck.de

https://www.wired.de/collection/tech/die-erste-hyperloop-strecke-wird-in-frankreich-gebaut

ERZÄHLEN

Chiamanda Adichie erzählt von den Gefahren und den Chancen des Geschichtenerzählers. Diese wohl älteste aller Kulturtechniken der Menschen, Mutterboden für Glaube, Religion, Verschwörungstheorien und schöpferischer Imagination, schuf ganze Kulturen und verwüstete ebensolche.

Die eine Geschichte, die eine Wahrheit, lockt Leid, Verzweiflung und Konflikte. Die Diversität der Erzählungen, der Perspektiven der Geschichten, lockt Frieden und Gelassenheit. Die finale Revolution, die unzähligen Formeln wie, wo etwas hinführt, den einen richtigen Glauben, die eine gute Idee… haben wir alles tausende von Jahren ausprobiert. Neu währe die diverse Lesart der Dinge. Neu währe, statt auf einzelne Thesen zu setzen auf die unbeschreibliche Vielseitigkeit der Realität zu bauen. Noch nie wahren die Möglichkeiten dafür so ideal. Auch wenn uns der Abschied von den einen Geschichten schwer fallen würde, an die Jede und Jeder von uns festhält; Ich denke es würde sich lohnen. Wir müßten nicht weiter warten oder suchen, wenn wir endlich begriffen das alles längst ist.

MYFEST

früher, als das MyFest noch 1.Mai-Demo hieß, als effektvoll die Autos brannten und keine Fensterscheibe hielt die nicht mit Brettern vernagelt wurde, schien mir der Geist von la grande dame la révolution noch gesund, unbestechlich und wild. Dann amalgamisierten 2003 die verräterischen VeranstalterInnen mit Herrn Dieter Glietsch dem neuen Berliner Polizeipräsidenten (der wenigstens drei Jahre später auf der 1.Mai Demo ordentlich dafür verprügelt wurde). Gemeinsam lockten sie unzählige Zauberclowns, Köftebräter, 20 Musikbands pro Straßenzeile und buntes Familienprogramm ins Epizentrum 36, um die Bambulanten beim Stören zu stören. Mir schien das damalig ein perfider Missbrauch der Zivilgesellschaft. Bunt bemalte Picknickfamilien ließen sich zu fröhlichen Schutzschildern gegen aggressive, prodemokratische Reflex verstricken. Zudem schienen mir Straßenkämpfe und brennenden Autos um einiges fotogener, als die, sich friedlich durch die Monsterparty quetschenden Massen.

Nach ein paar Jahren habe ich dann zwar den Sinn des Deeskalationskonzept widerwillig anerkannt (was auch daran lag, dass die hellgrünen Umhänger des neuen ungepanzerten Deeskalationsteams der Polizei so schön mit dem frischen Frühlüngsgrün der Bäume und Büschen korrespondierte – auch sehr fotogen http://www.fotocommunity.de/photo/gruenzeug-dion-m-beeck/13330575).

Das MyFest machte mir trotzdem weniger „Spaß“ als das destruktive Chaos die Jahre davor. Es roch einfach nicht mehr nach Tränengas und notwendigen Protest, sondern nach verbrannter Köfte und Kotze. Geht das überhaupt? Kontrollierte Anachie?

Dieses mäkelte ich gestern in trauter WG vor mich hin, als meine Mitbewohnerin Cornelia eine Lanze brach für aktuellen Wahnsinn. – So etwas gibt’s in keiner anderen Stadt. Typisches Kreuzberger Feeling mehrfach multipliziert. Überall wird gebraten und getanzt und weit und breit kein Ordnungsamt das irgendwelche Lizenzen sehen will. Überall Musik, einige richtig gut. Ein Taumel aus irgendwie politischer wie massenweise guter Laune. Noch dazu einer der wenigen nicht christlichen Feiertage. So viel Menschen, auf den Straßen. Die Polizei, geschult entspannt. Die Wasserwerfer für alle Fälle epiperipher vor der Hasenheide geparkt. Das Motto ist einmal mehr in dieser Stadt – ALLES DARF SEIN – Besonders was nicht seihen darf. Und über allem schwebt nach wie vor, stolz und subversiv la grande dame la révolution, wenn auch tendenziell in Feierlaune (na ja, nicht ganz so, aber ähnlich sagte sie’s) –

Dies alles habe ich soeben selbstisch überprüft und möchte Cornelia hiermit beipflichten. Es sind weniger Zauberclowns. Es stinkt nach Köfte und Kotze, der Görli ist ein Flaschenmeer, in dem die Masse rhythmisch wabert. Die Flaschensammler die das nutzen, können danach direkt in’n Urlaub fliegen. Den werden sie auch nötig haben, nach tagelangen warten in den Schlangen vor den Getränkepfandautomaten. Die Musik ist allerorts erstaunlich gut. Die Laune ist politisch und bestens, die PolizistInnen sexy und freundlich in schicker schwarzer Panzerkäfertracht. Und mittendurch walzt sich auf einmal unangemeldete Demo durch die Party. Unbehelligt von der „Ordnung“ erscheint sie Tausenmenschenstark aus bengalischen Rauschzauber und behauptet, organisch wachsend die Nauny- und die Wienerstr als „unser“ Territorium. Rotschwarze Fahnen werden geschwenkt, Pappschilder und Sprechchöre warnen vor Islamophobie, Homophobie, vor dem KA KA Kapitalismus, und den Nazis. Autos haben wenig Platz und die Scheiben bleiben auch ohne Bretterschutz ganz und sicher ist, daß nichts und niemand sicher ist. Schon gar nicht hier. Alleine dies derart zu feiern ist, in einer Welt der Rückwertsfans und Festhaltefreaks, schon ziemlich berlin.

SÜSS

 

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3 Sudanesen am Bodensee

während eines FSJ-Seminars saßen in einer Kleingruppe zwei Jugendliche aus Baden-Württemberg ein junger Mann aus dem Sudan und ich zusammen und unterhielten uns über die Dinge in unsrer Kultur die uns geprägt hatten. Der schüchterne Junge aus dem Sudan sprach davon, dass sein Vater starb als er zwölf war. „Woran starb dein Vater?“ wollte der Junge aus Baden Württemberg wissen, der sich gerade ganz nebenbei seine Insolinspritze für das nahe Abendessen aufzog. Der junge sudanesische Geflüchtete nannte ein Wort das erst keiner von uns verstand. Nach drei Versuchen verstanden wir es endlich. „An Zucker“ Er lächelte unsicher. Traute sich dann aber ebenfalls eine Frage zu stellen. Für was denn die Spritze sei, wollte er wissen.

Am Wochenende, zwischen den beiden Seminaren in Bawü, durfte ich wie so, oft im Haus einer befreundeten Familie verweilen. Ich begann der Hausherrin beseelt von den investigativen interkulturellen Begegnungen zu erzählen die meine Arbeit mit sich brachte. Sie unterbrach mich um mir zu erklärten, dass die (ich nehme an sie meinte die Sudanesen oder gar die Afrikaner…) aber auch ständig und überall Zucker essen würden…

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-02/hungersnot-somalia-jemen-suedsudan-nigeria-lebensmittel-klima/seite-2

RING

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Die Fahrradklingel

Imperialistische Maßregelung die, wenn sie ertönt, in erster Linie eines sagt. „Achtung! Hier komme ich! Ich brauche Platz! Ich werde zur Gefahr, wenn man mir keinen Platz macht! Dies ist meine Strecke und ich komme jetzt!“

Ein Grund zum Fremdschämen ist für mich beispielsweise folgender: Ich fahre, wie üblich achtsam und umsichtig durch einen Park. Die Sonne scheint, viele Menschen sind zu Fuß, oder auf diversen Fahrgeräten unterwegs. Ich steuere zügig und ohne Probleme an einer Gruppe Flanierenden vorbei, die mich, Dank angemessener Geschwindigkeit, und seitlichen Abstand zur Gruppe, rechtzeitig wahrnehmen. Hinter mir indes fährt ebenfalls ein Fahrradfahrer. Der sieht Menschen an denen er vorbei muß. Und obwohl ausreichend Platz ist, obwohl er an meinem Fahrverhalten gesehen hat, das gegenseitige Wahrnehmung und gefahrloses Miteinander möglich ist, obwohl alle längst zur Seite tendieren und es rein physekalisch quasi unmöglich währe, dass sich jetzt noch einer der Flanierer Grundlos und in Schallgeschwindigkeit meinem Nachfolger vor das Rad hechtet, erliegt dieser seinem unzähmbaren Reflex zu klingeln. Erst jetzt erschrecken sich die Flanierenden und wissen, was für Schreckmomente typisch ist, erst mal nicht wohin sie jetzt ausweichen müssen. Erst durch das Klingeln wird es gefährlich, was den Fahrradfahrer hinter mir aber nicht daran hindert schon bei der nächsten Gruppe ParkflaniererInnen erneut zu klingen, die Gefahr zu potenzieren und alle in Angst und Schrecken zu versetzen.

Ein Vielklingler, oder eine Vielklinglerin mag das anders sehen: „Ich sorge für mehr Sicherheit im Straßenverkehr, da ich die Fahrradwege, oder die Straßen und BürgerInnensteige die ich mit Fahrradwegen verwechsle freifege von potentiellen Gefahren.“

Mit Gefahren meinen sich die KlingelterroristInnen freilich nicht sich selbst, sondern Kinder, Alte und andere Menschen, denen sie von vorne herein mangelnde Achtsamkeit unterstellen, und die nur Dank ihrer Klingel eine Überlebenschance haben. Nur so lässt sich der offiziell, oder von höheren Mächten vorbestimmte Weg der FahradfahrerInnen, vom lästig Unbill reinigen. Das Verhalten der Angeklingelten scheint den KlinglerInnen Recht zu geben, da diese ja meist tatsächlich oftmals stehen bleiben, oder einen Schritt zur Seite tun, sobald es hinter ihnen losklingelt. Das machen die meisten, weil sie sich erschrecken. Um wie viel sicherer es wird wenn ich Menschen erschrecke bleibt jedoch selbst für die Wissenschaft eine offen Frage. Grundsätzlich zweifle ich an der positive Wirkung des Schreckens im Straßenverkehr.

Fahrradfahrerinnen oder der Fahrradfahrer die bereits von ganz weit hinten klingeln folgten einer ebenfalls üblichen Strategie, deren ursprünglicher Gedanke wohl ebenfalls der Idee der besonders sicheren Fahrweise geschuldet ist. Ob sich Menschen weniger erschrecken, wenn ein schrilles, kreischiges Geräusch von sehr weit Hinten kommt, bleibt zu dem fraglich.

Ich vermute es gibt keine verlässlichen Aufzeichnungen darüber weshalb die Fahrradklingel erfunden wurde. Allerdings kann ich mir vorstellen, ein wesentlicher Grund könnte der mögliche Notfall gewesen sein. Insofern befinden sich die DauerklinglerInnen und ihre Umwelt im permanenten Ausnahmezustand. Ein nachdenklich machendes Phänomen, wie ich finde.

RUHE

In der Arbeit mit Menschen die ein freiwilliges soziales Jahr absolvieren, gibt es diesen Teil des Selbstversuchs. Um Beispielsweise einfühlsamer mit behinderten Menschen zu arbeiten, könnte es helfen selber eine gewisse Zeit mit einem Handikap zu leben. Um blind zu werden benutzen wir Augenbinden. Viele Behinderungen lassen sich mit verschiedenen Hilfsmitteln zumindest für eine gewisse Zeit nachstellen. Doch wie steht es mit der Simulation von Taubheit. Die ist vergleichsweise schwierig herzustellen. Akustische Signale lassen sich nie 100% aus unserem Kopf aussperren, selbst mit dicken Kopfhörern nicht. Auch nicht wenn diese moderne Abschirmtechnik besitzen. Der hörende Mensch ist demnach so gut wie immer allen Geräuschen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Was eben diese Töne mit uns machen, wie gut oder schlecht wir sie verdrängen können ist zum einen eine Frage der Wissenschaft, zum anderen sicher eine sehr individuelle. Dennoch bleibt die Wahrscheinlichkeit hoch, das jedes Geräusch, jeder Ton, jede Musik etwas mit uns macht. Das Lautstärke, Gewohnheit, Natürlichkeit Rhythmus, Taktung dabei eine bedeutsame Rolle spielen.

Heute habe ich mal wieder einen möglichst ruhigen Ort in Berlin gesucht. Die Fabriken und Brachen die um die Jahrtausendwende noch von einer recht Menschen- und somit Autoleeren Stadt umgeben waren, sind fast alle in Wohn- Konsum- oder Eventraum verwandelt worden. In den Straßen, selbst in den kleinen, rauschen mittlerweile täglich 1000 von Autos umher. Im Tiergarten, immerhien Berlins größter und vielleicht sogar schönster Parkanlage (oder ist dies der Treptower Wald? Ich kann mich nicht entscheiden) ist der Lärm all der Fahrzeuge stets als begleitendes Brummen präsent, dies gilt auch für die meisten anderen Parks.

Auf dem Tempelhofer Flugfeld gibt es ein kleines Wäldchen mit ein-zwei Lichtungen an neuralgisch und akustisch günstigen Punkten. In einer kleinen Senke setzte ich mich dort in erstaunlicher Stille auf eine ehemalige Plattform für irgendwas, zog mein T-Shirt aus blinzelte in die Abendsonne und atmete das Entspannungsstartatmen, als eine Gruppe fernöstlicher Trommelkünstler unweit meines akustischen Idylls ein Gratiskonzert begann. Nach einer halben Stunde gab ich auf gegen meinen Inneren Konflikt, „nun sei doch nicht so ein Spießer, ist doch voll toll, daß in dieser Stadt überall alle machen können was sie wollen. Außerdem ist das voll Muli Kulti du konservativer Harmonienazi“ sagte die eine Stimme „aber das klingt wie eine Blechexplosion und ich suche doch gerade expliziert nach etwas RUHE“ sagte die andere. Ihr gab ich dann nach, stieg wieder auf mein Fahrrad, fuhr ein mal an dem ambitionierten Trommelquintet vorbei, entschied mich nicht ganz so vorwurfsvoll zu schauen wie ich es vorhatte und suchte weiter nach RUHE.

Ein Charakteristikum des Treptower Wald, so schön er auch ist, ist, an den wenigen Stellen die nicht von Menschenmassen geflutet werden, das stete Brummen einer Fabrik. Dort wo es ruhiger wird, wird das Brummen freilich um so „lauter“

Alle anderen Parks sind bei weitem nicht so bewaldet und somit regelrechte Verstärker für all die Geräusche die eben alle ParkbesucherInnenn und Besucher so machen. Und ein Ort an dem nicht Züge, Autos oder ähnlich urbane Begleiterscheingen ans Ohr dringen gibt es nicht mehr.

Da viel mir das Südgelände hinter dem Südkreuz ein. Ein herrlich renaturalisiertes Gebiet mit fest vorgegeben Wegen umgeben von ein wenig an Wildnis erinnernder Wildnis. Einst gigantisch entwaldetes Stellwerksgelände der Reichsbahn. Die Bahnlinie ist längst wieder geöffnet und zwar auf beiden Seiten des kostbaren Naturalls. Doch vielleicht dämpft das dichte Grün das stete Zuggerassel. So dachte ich mir. Ich drang möglichst tief ein, also geografisch maximal entfernt von umliegender Autobahn und Stadt. Doch eben an dieser Stelle übte ein reizendes altes Ehepaar das Jodeln. Ich kenne mich ein bisschen aus mit Jodeln, da ich in Bayern aufgewachsen bin. Dies ist auch der Grund warum ich weiß, dass diese beiden noch übten. Und sie standen in ihrer Übungsphase wohl noch recht am Anfang.

Nun sitze ich hier und denke schriftlich über all das nach. Über mir Flugzeugbrummen, vor mir Zuggeratter, hinter mir Zugeratener, unweit von mir ein Jodelkurs, der mit viel guten Willen als solcher erkennbar ist, das tippen meiner Finger auf der Tastatur und Menschenstimmen wie immer und überall nur etwas weniger.

In den 80ern, donnerten gerne die Überschalljets durch die Schallmauern und Angst und Schrecken rieselte, besonderen bei schönen Wetter auf unsere Kinderseelen. In den Wäldern wird zu allen Zeiten gesägt, geschreddert und gerattert. Die Meditation nahe der Streuobstwiese im Garten des Seminarhauses wird von Rasenmäherkreischen und Baustellentammtamm begleitet. Ruhe ist seltener geworden als Gold und Diamanten.

Nun ich muß zugeben, die Bäume um mich herum, der gehörige Abstand zum urbanen Treiben, und vermutlich auch der Akt meiner Nachdenklichkeit Ausdruck zu verleihen, hat mich tatsächlich ein wenig beruhigt. Ich werde wohl noch ein wenig hier herumgeistern, bevor ich zurückkehre in den Schalleintopf der viel zu vollen Stadt. In ein paar Stunden beginnt dann meine Zeit. Um 2 Uhr 3 Uhr Morgens unter der Woche. Berlin schläft nie, aber sie wird vielerorts ruhig um diese Zeit. Da wird Fahrradfahren zur Pilgerreise. Die Eingänge in die Parks zu Kleiderschränken hinter denen ungekannte Zauberreiche warten. Da scheint mir, hebt die Stadt sich aus unruhigen Dämmerzustand und wird wahrhaft Wach und Ruhig um durchzuatmen. Wir, sie und ich, träumen dann von einer Stadt ohne Autos. Mit weniger Menschen die weniger evolutionär bedingte Ängste haben verloren zu gehen in dieser kaleidoskopischen Kakofonie und daher möglichst viel reden und laut reden. Sich möglichst lautes Zeug zulegen. Möglichst viele Dinge, die Piepsen und Hupen und klingeln und Rumpeln.

SPALTEN

Klaus Maria Brandauer sprach in einem aktuellen Interview in der SZ, während er von der EU sprach „…nicht von einem Problem, sondern von der Lösung“. Wenn sich nun ein ganzes Land von dieser Lösung abwendet, oder zumindest ein Großteil deren wahlberechtigter und wahlbereiter Bevölkerung, stellt sich die Frage; Wendet sich dieses Land von der Lösung ab. Herr Brandauer geht nicht direkt darauf ein für was Europa die Lösung ist, so doch indirekt. Er erinnert daran, dass es vor der Wende, also vor dem Europa welches seit 1989 an einem gemeinsamen Wertekodex arbeitet, keinen Frieden gegeben hat.

Das sollte sich eine jede und ein jeder ein mal auf der Zunge zergehen lassen. Es ist nicht etwa so, dass es vor der europäischen Union seit dem 30jährigen Krieg selten Phasen des Friedens gegeben hat. Es ist so, dass vor dem Brüsseler Pakt ausschließlich Krieg in Europa herrschte. In einer Zeit der wachsenden Klüfte, der sich öffnenden Scheren und der dipolaren Verwerfungen, den Spaltkeil tiefer in das friedenstiftende System, das global einzigartige Experiment nachhaltiger übernationaler Verbindungen zu treiben, scheint mir Lichtjahre entfernt von einer gut entwickelten, wohl überlegte, mehrheitlichen Entscheidung. Dies alles wirkt wie das der böse Zerrspiegel des irrigen Prozedere welches 1989 am Ende für den Fall der Mauer verantwortlich war. Eigentlich ebenso ungewollt und doch passiert, verändert dies, was soeben noch undenkbar war, nun alles. Und diesmal sicher nicht zum Guten. Es sei denn…