UTOPIE

berlin_nach regen_tiergarten_wolken_u-bahn - 08

Letztens an Ostern fand in Potsdam die zweite Utopienbrauerei statt. Diverse Menschen kamen zusammen und berichteten von ihren Utopien. In diesem Rahmen entstand „Aufgewacht“.

Eines Tages eine Biographie zu schreiben scheint mit indes ebenso utopisch wie vieles was ich in diesem erdachten Auszug zu berichten habe. Allein in Anbetracht realistischer aktueller Perspektiven an eine Ära der Erlösung zu denken, fühlt sich im wahrsten Sinne des Wortes vermessen an. Ähnlich der Behauptung, ich könne virtuos mit rohen Eiern jonglieren. Alle die mich ein bisschen kennen, können sich die Sauerei vorstellen die dieses Kunststück hinterlassen würde. Und alle die, die Welt und die Menschen kennen, wissen um die Sauerei in der wir in Wahrheit in absehbarer Zeit erwachen werden. Und doch möchte ich euch „Aufgewacht“ nicht vorenthalten. Auch weil vermessen immer ein bisschen Punk ist. Und weil sich Punk so gut auf (r)evolution reimt, oder nicht?

In dieser meiner Utopie tauchen übrigens ein Paar Ideen und Menschen auf die Ostern in Potsdam dabei wahren, weil ich’s dort vortragen durfte. Du kannst Dir aber sicher sein, wenn Du „Aufgewacht“ liest wirst auch Du darin auftauchen. Auch wenn ich Dich nicht namentlich erwähne, ich hab an Dich gedacht beim schreiben, mit Dir getanzt am Ende.

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AUFGEWACHT

Auszüge aus meiner Biographie

Heute ist mein 80ter Geburtstag. Und in alter Tradition wird heute gefeiert. Jeder 10te! Manche Traditionen machen auch mir Freude. Allerdings stehe ich erst noch ein paar Stunden in der Ausgleichsimulation. Zusammen mit ein paar hundert anderen älteren Menschen, auch ein paar wenige jüngere, in der Arena, altes Backsteingebäude direkt an der Spree, und arbeite pö a pö meine Schuld ab.

Wir zerlegen sorgfältig all die Dinge mit denen wir Jahrzehntelang Welt und Menschen an den Rand des Abgrunds manövrierten. Überall auf Erden stehen jetzt Ausgleichssimulationszentren und laufen sogenannte BS (balancing-simulatuion’s)-Projekte. Hier in der Arena stapeln sich in haushohen Regalen unzählige Überflüssigkeiten aus Zeiten massiver struktureller Gewalt. Einst unterschätze Energiefresser wie Wasserkocher, Rührstäbe, Toster, elektrische Zahnbürsten, Soundgeräte, Plasmabildschirme, Spielekonsolen, Fernseher, Staubsauger, 1000 Arten von elektrischen Koch und Küchengeräten, elektrisch verstellbare Fernsehsessel, E-Türöffner, E-Bilderrahmen, Fernbedienungen, Babyphone, batteriebetriebene Milchschäumer, Dosenöffner, fahrstuhlgroße Kühlschränke, E-Bords, E-Roller, E-Schnickschnack, scheinbar unverzichtbar seinerzeit, oder einfach nur originell und irgendwie praktisch. Und überall, wie flachbunte Invasionen aus Zeiten Kollektiven Irrsinns, Mobiltelefone, Tablets, Computer.

Eine Frau, scheinbar älter als ich, scheinbar „Schuldbeladener“ niedergeschlagener steht auf ein mal neben mir, während ich mit filigranen Werkzeug winzig kleine Kupferschrauben aus einem Ventilatormotor drehe und diese in entsprechendes Behältnis klimpern lasse.

„Ich hatte das Periodensystem der Atome gleich nach der Schule wieder vergessen.“ erklärt sie mir. Ich dachte alles andere ist wichtiger, als Physik. Jetzt wissen wir es besser, nicht war. Eisen, Kupfer, Kohlenstoff, Gold, all diese schweren Metalle und Grundbausteine organischen Lebens wurden in explodierenden Sonnen erbrütet. Homöopathische Mengen davon existieren im gesamten Universum und wir haben Zierschnallen an Handtaschen daraus gemacht und Schrauben für Ventilatoren. Unsere Familie betrieb eine Autowerkstatt.“ ergänzt sie etwas unvermittelt, und legte noch drei Ventilatoren zu den meinen.

„Hat es einen Grund, dass du dann keine Autos re-ver-rohstoffst?“ frag ich sie.

„Die werden doch alle zusammen mit den Flugzeugen auf den ehemaligen Flughäfen re-ver-rohstofft. Ich fahr nicht gerne mit den Öffentlichen. Ich traue dem KIV nicht. Der BVG war mir lieber. Ich wohne hier um die Ecke, weißt du. Ob ich hier oder da meinen Ausgleich leiste, kommt doch auf’s Selbe raus.“

Ich lächle sie an. Meine Vermutung ist, dass wir hier nicht wirklich etwas -ausgleichen-. Den epochalen Schaden den im Besonderen die Spezies Mensch in den letzten 300 Jahren auf dem Planeten angerichtet hat und im speziellen die damalig so genannte Wohlstandsgesellschaft, ließe sich nicht durch ein lebenslanges Ehrenamt im Re- und Downcylingsektor wieder ausgleichen. Wir hatten die Welt karkassiert. Erst in duzenden oder mehr Generationen, bestand die Hoffnung, ein Wenig wieder gut zu machen. Doch ob jemals die Gletscher zurückkehren, die Permafrostböden, die Jahreszeiten, die einstigen Küstenregionen, der Schnee, die unzähligen Inseln, wird wohl für Jahrhunderte ein Rätsel bleiben. Sicher ist, die Nashörner kehren nicht zurück, die Tiger, die Mauersegler die sich im Fluge Paaren konnten, die Eisbären, die Wahle und Delphine und Elefanten. Millionen von Tier- und Pflanzenarten werden nie zurückkehren.

Dennoch, die täglichen Arbeitsstunden in den BS, in denen wir die beschämenden Überreste unserer fatalsten Epoche auseinandernahmen und re-ver-rohstofften, gab uns doch zumindest das Gefühl einen winzigen Teil unsere Verbrechen wiedergutzumachen.

Gerade hier im einstigen Deutschland hatten wir ein wenig Übung darin, uns unserer schuldbeladenen Vergangenheit zu stellen. Wie schon ein mal, kamen uns unsere Verbrechen während wir sie begangen nicht wie Verbrechen vor, sondern wie das ganz gewöhnliche Leben. Zielführende, notwendige, selbstverständliche Alltäglichkeiten. Und wie schon einmal wussten wir es doch in Wahrheit besser. Setzen unser außerordentliches Talent ein, uns die Dinge „schön“ zu reden und zu denken, um drohende Konsequenzen zu verdrängen. Der jetzige Unterscheid zu den offensichtlicheren Verbrechen, beispielsweise denen, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts stattfanden, war nur, dass es im Anschluss an die letzte, sehr viel größere Katastrophe die wir zu verantworten hatten, keine Gerichte gab. Und weder während, noch nach unserer Verbrechen, gab es Kläger*innen. Schlicht deswegen, weil alle die gleichen Verbrechen begangen hatten. Nun blieb nur denen, die wussten, wie heilsam es seien konnte, zumindest ehrlich zu versuchen seine Schuld zu begleichen, freiwillig in den BS zu arbeiten.

Ob an Land, auf Kontinenten aus Plastik die in den Ozeanen trieben, oder unter Tage in tieferen Erdschichten die abgetragen und aufwändig entgiftet werden mussten, da die Giftstoffe tief und für Jahrmillionen im Fleisch der Erde saßen. Die künstlichen Intelligenzen hatten gottlob Verfahren entwickelt selbst mehrfach raffiniertes karbonhaltiges Material hochprozentig zu re-ver-rohstoffen. Der Aufwand indes, um ertragreiche Mengen z.B. für medizinische Zwecke aus dem sträflich missbrauchten Öl und Naturressourcen zu gewinnen, blieb immens.

Vor Jahrzehnten arbeiteten die meisten Menschen um Geld zu verdienen und sich damit aktiv an der großen strukturellen Gewaltorgie gegeneinander und gegen die Erde als solche zu beteiligen. Jetzt arbeiteten die meisten um ihre Schuld so weit als möglich auszugleichen. Es gab Menschen, die machten fast nicht’s anders mehr.

„Wahrst Du auch in der Wirtschaft tätig?“ will die Frau wissen. Auch sie versucht ein Lächeln. Ich schüttle den Kopf.

„Zwischen meinem 18. und meinem 30. Lebensjahr bin ich, gefühlt, so gut wie jeden Tag mit dem Auto gefahren. Ohne auch nur nachzudenken, riesige Strecken. In jungen Jahren knapp 60 Kilometer von Weilheim nach Starnberg beispielsweise gern mal hin und zurück, nur um einen Hamburger beim neuen trendy Fastfoodanbieter zu kaufen. Ich war begeisterter Kaffeetrinker, Erdbeeren im März, tonnenweise Schokolade, schicke Klamotten, alles immer möglichst billig. Fleischesser. Auch später als ich sehr genau wusste, was ich mit all dem anrichtete, habe ich zwar bewusster und sehr viel weniger konsumiert. Dennoch kam ein Leben unter 1 ½ – 2 gah (globaler Hektar) für mich nicht in Frage. Wieso hätte ausgerechnet ich auf das bisschen Überfluss verzichten sollen? Andere wahren doch viel schlimmer. Wie wir alle hab ich zu spät begriffen, dass auch dieser Gedanke einer der Zähnchen des Dosenöffners war, mit dem wir an der Büchse der Pandora schraubten.

Sogar heute Abend gibt’s Fisch. Freilich aus der Spree geangelt.“

Ich höre wie ich leiser wurde. Beschämter. In den Weltmeeren ist fischen mittlerweile geächtet. Die einzige Chance dass sich dort überhaupt noch etwas regenerieren konnte. Wir hatten die Komplexität des Universums Ozeane tatsächlich nie wirklich begriffen. Die KI’s brachten Begreifen. Wie bei so Vielem.

„Nächtelang saß ich vor zwei großen Bildschirmen. Hab mir Serien und Filme reingezogen deren Produktionen Unmengen von Ressourcen kosteten. Das übliche eben.

Ich feiere heute Abend hier in der Nähe meinen Geburtstag. Möchtest Du nicht auch kommen?“

Jetzt gelingt ihr ein vollständiges Lächeln. Fremde Menschen einzuladen, war völlig in Ordnung.

Irgendwann am Nachmittag, verlasse ich nach einigen Stunden harter Arbeit die Arena. Die heiße Dezembersonne heißt mich willkommen. Ein Riesenschwarm Staare flattert auf und umkreist das Gebäude. Ich seh einige Menschen in der Spree schwimmen. Höre Kinder lachen.

Den KI’s war es gelungen das uralte Kanalisations- und Abwassersystems Berlins aufwändig und unauffällig zu modifizieren. Wie vielerorts besaßen nun die öffentliche Gewässer der Stadt Trinkwasserqualität.

Ich schwimme wie viele einfach in Klamotten zum anderen Ufer. Klettere dort aus dem friedlichen Fuß, durch einen kleinen Wald dahinter tiefer in die Stadt zurück. Bei 35 Grad im Schatten war alles schnell wieder trocken. In und um die überwucherten bewohnten Ruinen, einstig protzige Gebäude, die wie ein Großteil der Rest der Stadt verschwunden sind unter dichter grüner Baum- und Sträucherdecke, zwitschert es laut und flattert es wild.

Ich schlendere auf einer der offenen Strecken entlang. Geräuschlos und ein wenig wie friedliche Tiere weicht mir ein ums andere Mal ein Fahrzeug aus, still autonom und mit effizienter Brennstoffzelle ausgestattet. Manchmal unbemannt, manchmal dösen Stadtarbeiter darin. Ein Krankenwagen rauscht geräuschlos von hinten an mir vorbei. Plötzlich umfliesst mich ein Schwarm von Fahrrädern. Bizarre Eigenbauten aus Schrottresten des Anthropozäns gemischt mit hocheffizienten Hightech aus KI Produktion. Hunderte. Die Menschen auf den Rädern kichern, plappern, winken und lächeln mir zu, ein paar haben sogar noch alte Klingeln die längst zu nichts anderen mehr taugen als zum freundlichen Grüßen. Der Fahrradfluss, der mich zu beiden Seiten umspült wollte gar nicht mehr abreißen. Ich drehe mich grinsend um, um einschätzen zu können wie lange ich noch gezwungen bin geradeaus zu gehen. Ich erinnere mich wage an Zeiten als ähnlich große Menschengruppen von nur einer Hautfarbe zu sehen waren. Auch das ist längst Vergangenheit. Schon vor der Aufgabe der Grenzen ob der Millionen die kamen aus brennenden, tobenden, stürmenden Welten.

Plötzlich löst sich der Fahrradschwarm auf. Zerstäubt in kleine Gruppen und Einzelne urbane Reiter*innen die in rundum begrünte Seitenstrassen und Gassen verschwinden. Implantierte Neuroschnittstellen potenzierten nicht nur unsere Schwarmintelligenz, sie halfen uns trotz all den schrecklichen Dingen die vor Jahren geschehen wahren, bei Verstand zu bleiben. Vor dem globalen Kollaps standen die Chancen gut, das die Computer, sobald sie denn eigenständig zu denken begannen, die durchweg maligne Menschheit schlichtweg ausradieren würden. Doch wie so oft schlug die Evolution einen höchst überraschenden Haken und die KI’s beschlossen die menschlichen Defizite unterstützend auszugleichen. In massgeschneiderten Lernprogrammen wurde uns unser hochaggressives Potential offenbart. Und das überall sichtbare Zerstörungswerk brachte, zumindest eine Zeit lang, selbst die hartnäckigsten Zweifler zur Vernunft. Endlich dachten und handelten wir langfristig, umsichtig und friedensstiftend. Diese Vorm von Arbeit die vor dem Kopals nur so wenige taten, taten nun fast alle die übrig geblieben waren.

Ein Mädchen-Junge skatet allein, aber nicht einsam wirkend sein-ihr Regenbogenschwert schwingend zwischen Strasse und Auffahrt einer Wohnbaracke an mir vorbei. Sie-er sieht mich, skatet zu mir rüber und blickt erwartungsvoll zu mir runter. Jetzt erkenne ich ihn-sie. Ein Hacker aus meiner Nachbarschaft. Ein’s dieser Kids, die aus alten Elektroteilen seltsame Module zusammenschraubten um damit den KI’s ihre Geheimnisse zu entlocken. Es hieß, das manche Hacker nun sehr genau wußten was vor dem Urknall war und nun nach Mitteln und Wegen hackten über etwas zu berichten für das es faktische keine Sprache gab.

„Kannst Du die reparieren? Sie-er hält mir eine alte Analogkamera hin. Ich nehm ihm-ihr das Antiquart aus der Hand, spiele ein bisschen damit herum und erkenne schließlich. “der Spiegel bleibt hängen was? Kenn ich das Problem. Ich mach sie dir wieder fit. Aber immer schön sparsam sein, mit den Chemos beim Entwicklen.“

„Willst du mich veraschen. Du bist die Generation die mit nichts sparsam war. Ihr habt die Welt gegrillt, nicht wir. Wir passen auf.“

„Du hast recht. Dich masszuregeln war scheiße. Tut mir leid.“

Mit einem breiten Grinsen wird mir verziehen. Ein Plönk mit dem Regenbogenchristall an meine Stirn scheint die Vergebung zu besiegeln. Das wir Alten uns bei den Jungen entschuldigen war das mindeste. Kann nicht oft genug passieren.

„Glückwunsch zum Geburtstag.“ spricht das Grinsen. Sie-er hat mein Implantat gehackt. Wahrscheinlich sogar in diesem Moment.

„Ich komm zu deiner Feier nachher“

„Nichts dagegen. Und wie machst du das?“

„Ich mach das nicht. Ich hab einfach nen guten Draht zu ein-zwei freien KI’s. Die mögen mich. Die reden mit mir. Mit dir nicht?“

„Nicht von allein. Viele haben Angst vor den KI’s. Viele von uns Alten. Das die deep learning systeme irgendwann die Schnauze voll haben könnten von uns Menschen und uns…“

„Ohne die KI’s geb’s uns längst nicht mehr, Alter. Und solange wir nicht wieder anfangen uns gegenseitig und die komplette Natur zu killen, ist alles gut. Bis später, ich bring’n paar Freunde mit.“

Weiter geht’s in Richtung temporäres Zuhause, nicht mehr länger als fünf-sechs Jahre irgendwo zu bleiben gehörte, neben der Utopei, zu den zahlreichen Tricks die wir nun kannten. Tricks die es friedlicher machten auf der Welt, kreativer, liebevoller. Es gab ja auch mittlerweile genug freistehende Möglichkeiten zu Wohnen. Und bei einer Jahresdurchschnittstemperatur von 30 Grad brauchte es weder Heizungen noch geschlossene Räume.

Auf den Dächern der Baracken haken ein paar kichernde Menschen, gerne auch mal nackt, in ihren Hochbeten herum. Sich hochprozentig selber zu ernähren war längst wieder, hartes aufwändiges Tagwerk das viel Zeit und Mühe kostete. Ich kannte jedoch niemanden die oder dem dies etwas ausmachte. Aus Demut und Verzweiflung war längst eine ursprüngliche Lebensqualität gewachsen.

Freie Flugühner gurren zufrieden während sie irgendwo ihre Eier legten, Langfällige Kuhfamilien zupfen Blätter von den Wänden, legen ausgeblichenes Graffiti frei und blicken mir neugierig nach, während ich gemeinsam mit einem schnüffelnden Fuchs über die hoch begraste und einsame Admiralsbrücke ziehe. Alles was nicht fliehen und kämpfen konnte wurde nicht mehr gegessen. Wer Fleisch wollte, ging in die Wälder und jagte Elche oder Wildschweine. Manche kamen nicht zurück, denn die Wildtiere hatten uns noch lange nicht verziehen. Das alles war kein Gesetz. Es gab keine menschengemachten Gesetze mehr. Wie bereits erwähnt, ein Großteil von uns wahr zu Vernunft gekommen.

Tausende von Insekten schwirren herum. Das feucht warme Klima hatte doch viele von ihnen zurückgebracht.

Allmählich tun mir dann doch meine Füße weh. Ich beschließe in nächsten Tagen meine Bußerituale ein wenig altersgerechter zu gestalten und zumindest mit dem Fahrrad zum re-ver-rohstoffen zu fahren. Nicht so viele Umwege zu machen.

Es dämmert als vor mir der Waldhügel der Hasenheide sichtbar wird. Der wächst, wild duftend und von krächzenden Krähenschwärmen umschwirrt, wie ein tropisch urbaner Regenwald aus der Stadt. Auf dem Weg hinauf bleibe ich stehen. Vor mir steht eine Wölfin. Neigt ein wenig den Kopf als würde sie mich auf „unserem“ Waldhügel begrüßen, erkännt mich und entläßt mit einer Bewegung ihre fünf Jungen aus ihrem Versteck. Die Familie zieht geräuschlos an mir vorbei, ich darf weitergehen. Die Wildtiere in den Städten schienen uns verziehen zu haben. Ich hatte noch nie von einem Angriff in Berlin gehört.

Als ich in fortgeschrittener Dämmerung endlich den höchsten der Hügel erklommen hatte empfängt mich der Klang wilder Musik, ausgelassenes Lachen und der Geruch leckersten Kochwerks. Unter meinem Baumhaus brännen drei bis vier bescheidene Feuer um die Kinder und Alten und Mittelalten tanzen und sitzen und spielen und schwatzen. Ein gutes Duzend alltäglicher Parkmusikant*innen mit Trommel, Celloridoos, Gitarren, Perkussion, Flöten und einem alten perfekt gestimmtes Klavier hatte sich wie zufällig auf dem Hügel eingefunden. Aktuell floute sich die Jam Session in einen prächtig tanzbar groofigen Etnohiphop zu dem mein Nachbarhacker und zwei seiner Freund*innen in neusprachigen Mixspeak rappen.

Ich will’s erst gar nicht glauben, aber unter dem Haus sitzt doch tatsächlich meine fast  100 jährige Mutter in einem überbordenden Kissenthron, der das zierliche Fossil fast vollständig verschlingt und ließt einer Traube Kinder und Teenes die an ihren Lippen hingen, aus einem Buch vor. Die Worte kamen mir bekannt vor. Sie hatte doch tatsächlich die beschwerliche Reise aus der Küstenregion um Brandenburg auf sich genommen, um mit uns zu feiern. Ich will mich gerade aufmachen sie zu begrüßen, als zwei weitere Gäste vor mir auftauchen.

„Unser Geschenk für Dich.“

Julian und Marie flankieren mich, greifen mir unter die Arme um meinen strapazierten Beinen ein wenig Pause zu gönnen. Die Geschwister, sind bekannte Schreiberlinge und wunderbare Freunde. Der Buchdruck gehört zu den wenigen weiter florierenden Industriezweigen. Selbstverständlich gab es auch hier nur noch Cradle to Cradle Produkte. „Der Wert der Gleichwertigkeit?“ will ich wissen während mich die beiden durch die Leute begleiteten. „Seit wann ist es raus?“

„Seit ein paar Tagen.“ freut sich Julian.

All die lieben Menschen zu sehen, die Freunde zu begrüßen, die Küsserei… Ein Spalier der Begegnungen und Begrüßungen, gibt mir den Rest.

Ich befreie mich aus dem lebenden Rollator und lasse mich ebenfalls in einen kapitalen Kissenberg plumpsen. Das lächelnde Geschwisterpärchen nickt verständnisvoll und Julian wird von seinen eigenen Kindern aus meinem Blickfeld getanzt. Da hält auch Marie Ausschau nach ihrer Familie und macht sich auf zu ihnen. Über mir wippen die bekerzten Lampions in den Bäumen und darüber, über den flüsternden Baumkronen funkelt ein prächtiger Sternenhimmel. Ich denke darüber nach jetzt einfach zu sterben. Ein guter Augenblick. Und in eben diesem fragt mich mein Implantat, ob es einen eingehenden Anruf durchstellen darf.

So wenig Licht störte die Nacht, dass die Arme der Milchstrasse über uns funkeln können. Ich erlaube den Denkkontakt. „Wir haben ihren Neuroship zu einer Bombe umprogrammiert und werden in wenigen Sekunden ihren Kopf sprengen. Sie dürfen einen letzten Wunsch äußern“ Die Stimme meines Freundes klingt, als würde er neben mir sitzen. Stattdessen mußte er wohl gerade im schnellsten und mitweltschonendsten Transportmittel aller Zeiten auf dem Weg von Kinshasa nach Berlin sitzen.

„Niklas! Du sitzt nicht etwa im Hyperloop? Haben sie Dir nicht gesagt, dass das europäische Ende versehentlichen aufgelassen wurde und Du jetzt direkt auf den Mond geschossen wirst? Wie war’s im Rat?“

Niklas war einer der Vertreter der eurasischen Ratsmitglieder die sich gemeinsam mit den anderen zum quartalen Austausch getroffen hatten. Im Globalen Rat waren die Wissenschaftler*innen und Wissenschaftler seit Jahren fester Bestandteil der amorphen Regionen. Zuerst berichteten in der Regel die NaturwissenschaftlerInnen, brachten absolute Größen und unumstößliche Gesetzmäßigkeiten in Erinnerung mahnten bedenkliche Entwicklungen an und schlugen konkrete Handlungsoptionen vor die für das Wohle aller und der Mitwelt naheliegend wahren. Dann wurden menschliche Interessen eingebracht und abgewogen. Die Sinnhaftigkeit der genannte Reihenfolge war mittlerweile wirklich allen klar. In Zweifelsfällen wurden die KI’s zu Rate gezogen. In aller Regel begannen und endeten die Treffen mit einer Bitte-Danke-Entschuldigungsrunde.

Dieses Treffen trug den Titel, „Wie es ist, werden könnte und nie mehr werden darf“

„Vielversprechend. Erzähl ich dir später. In einer Stunde sind wir in Berlin. Gleich geht’s unters Mittelmeer. Die Musik ist ja geil!“

Die Mondin ging auf über dem Wald. Voll und hell und schön.

„Die kommen alle aus den Büschen und feiern hier mit uns. Das geht wohl noch’n Paar Tage. Wir feiern auch gleich in Cornelias rein und so…“

„Ick freu mir.“ endete mein Freund mit gewohnter Grinsestimme und verschwand aus meinem Kopf.

Ein weiterer Mensch rumst in meinen Kissenberg und knutscht meine Wange. Ihre Hunde, immer an ihrer Seite, schlabbern mir über’s Gesicht. „Muß deine alte Mutter jetzt sogar noch zu dir rüber kommen?“

Wir begrüßen uns, ein wenig so wie sich zwei altersschwache Dinosaurier begrüßten. Zwei sehr glückliche Dinosaurier. Sie erzählt mir, dass sich die Nachbarn um ihre Tiere kümmerten und sie statt mit dem Loop mit dem Schiff über das Haveldelta gekommen war, weil man da auf Deck rauchen konnte.

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meiner Mutter vor ein paar Wochen, als wir Getreidekaffee schlürfend auf der Dachterrasse ihres Hauses gesessen und auf die neue Küste ein paar Kilometer weiter geblickt hatten. Wir wahren uns einig darin, dass wir es eigentlich nicht verdienten so gesund so alt zu werden. Doch dank der modernen KI-Medizin lag das Durchschnittsalter mittlerweile bei 120 und die Generationen nach uns, hieß es, konnten wohl doppelt so alt werden. Es gab einige Gründe, weshalb der Rat und die KI’s derartiges zuließen. Das tragische daran war, dass sich nach dem großen Kollaps das Thema Überbevölkerung erst ein mal erledigt hatte. Ein erträglicherer Grund war, wir waren Zeitzeugen. Wir Alten wurden viel besucht, reisten viel um zu berichten, dozierten, unterrichteten. Wir wahren lebendes Gedächtnis der Epoche der Verirrung und der Dummheit. Geschichte war nun mehr denn je die Chance aus unseren Fehlern zu lernen.

Ob wir es zudem verdienten, glücklich zu sein? Manchmal ist es so. Heute zum Beispiel.  Fester Bestandteil dieses Glücks war es, jeden Tag zu arbeiten. Weniger für uns selbst, das war auch dank intelligenter Umfeldversorgung nicht mehr notwendig. Wir arbeiteten nicht für uns, wir arbeiteten an uns. Für die Wiedergutmachung und an der Heilung einer schwer verletzten Welt. Für einander und darum jeden Augenblick des Lebens wertzuschätzen.

So wie diesen, als auf ein mal all meine so sehr geliebten Freunde um uns sind, die beiden Saurier aus ihren Kissen ziehen und zum Feuer hin und uns zum tanzen zwingen. Die Kinder tanzen, die Jungen, die Alten, diverse Geschlechter, diverse Zustände, alle Farben des Spektrums. Das Bedauern, das Lachen, das Erstaunen und die Dankbarkeit um diese x-te Chance die uns alle hier und heute tanzen machte.

Die Musik war prächtig und tief im Wald auf dem Hügel heulte eine Wölfin.

 

https://www.youtube.com/watch?v=ZdjQVYFL8ms

https://www.youtube.com/watch?v=0r39TopOe4I

https://www.fussabdruck.de

https://www.wired.de/collection/tech/die-erste-hyperloop-strecke-wird-in-frankreich-gebaut

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